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#allesdichtmachen: Diskutieren in Zeiten moralischer Panik

Dirk Liesemer
Autor und Journalist
Zum Kurator'innen-Profil
Dirk LiesemerSamstag, 24.04.2021

Man muss immer ein wenig warten, ehe man auf Beiträge stößt, die sich ruhiger und sachlicher mit einem Aufregerthema befassen. Die ersten Reaktionen sind meist nur stur pro oder stur contra. Sie hängen sich an nebensächlichen Dingen auf und berichten aufgebracht, wer denn diese oder jene Sache gut finde – und mit dem wolle man doch ganz sicher nicht in einem Boot sitzen. Erstaunlicherweise werden solche plumpen Beobachtungen als Argumente dargebracht. Mittlerweile bin ich auf drei Beiträge – zwei Texte und ein Radiointerview – zur Debatte um #allesdichtmachen gestoßen, die ich hier empfehlen möchte:

Bereits gestern merkte Michael Angele im "Freitag" an, dass sich so manch ein Kritiker eine künstlerische Aktion nur noch als aktivistische Veranstaltung vorstellen könne.

Kunst, ob gelungen oder nicht, setzt sich aber erst einmal mit etwas auseinander. Der Schauspieler Volker Bruch zum Beispiel mit dem Megathema Angst. Und mit der Politik der Angst. Ich vermute, dass Bruch die Maßnahmen des Lockdowns nicht für besonders sinnvoll hält. Aber er sagt es nicht. Weil er eben nicht in Aktivismus macht.

Unbedingt lesenswert ist auch ein Beitrag des Psychiaters Jan Kalbitzer im "Spiegel". Er schreibt:

Die #allesdichtmachen-Aktion hätte die Frage aufwerfen können, inwiefern die Debatte über gesellschaftliche Einschränkungen zur Abwehr von Corona von moralischer Panik geprägt ist. Ob man einigen jener, die besonders unermüdlich vor Gefahren warnen und sich für härtere Maßnahmen einsetzen, unterstellen muss, dass sie die Krise zur Durchsetzung ihrer privaten Wertvorstellungen nutzen. Und dass es ihnen nicht, wie behauptet, darum geht, möglichst viele Menschen vor einem unnötig frühen Tod oder schweren Krankheitsfolgen zu bewahren. Ich würde das bezweifeln, finde die Diskussion darüber aber an einigen Stellen berechtigt.

Gepiqd habe ich ein konzentriertes DLF-Gespräch mit der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Sie sagt, die Kunstaktion sei "völlig legitim" und "sinnvoll" und merkt an: "Kunst ist frei, selbst im Krieg ist die Kunst frei. Punkt." 

Die Lösung ist auf jeden Fall nicht, einem tückischen Virus noch ein System, unsere Kultur, unsere Diskussionskultur, unsere Zivilisation, unsere Grundannahmen der Gesellschaft hinterherzuwerfen. Dass wir mit dem Virus umgehen müssen, dass das tragisch ist, dass Leute sterben – das ist unbestritten.

Ferner macht sie auf unterschiedliche Diskursarenen aufmerksam, verweist – nicht ganz zu Unrecht – auf eine "homogenisierte Medienlandschaft" und erinnert an den herrschaftsfreien Diskurs nach Habermas: Nicht wer etwas sage, sei entscheidend, sondern was gesagt werde. Daher, so schließt sie, sollten wir wieder Sätze bewerten. 

#allesdichtmachen: Diskutieren in Zeiten moralischer Panik

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Kommentare 54
  1. Moritz Orendt
    Moritz Orendt · vor mehr als 3 Jahre

    Hatte das Gespräch auch schon gehört. Danke fürs piqen!

    Sehr interessant fand ich auch ihre Beobachtung, dass diejenigen, die sich öffentlich äußern, das in extrem überwiegender Mehrheit alles sehr schrecklich fanden und diejenigen, die sich das angeschaut haben, es in überwiegender Mehrheit gut fanden (gemessen an Youtube-Daumen).

    Hat die Aktion damit nicht die homogenisierte Medienlandschaft eindrucksvoll gezeigt?

    1. Rüdiger Fries
      Rüdiger Fries · vor mehr als 3 Jahre

      Nun ja. Nach den positiven Bewertungen durch AfD und Querdenker werden es viel aus diesem Milieu geliked haben. Was sagt das aus? Es gibt ja gute Gründe die Videos schrecklich zu finden. Sie sind zynisch. Es ist in diesen Diskussionen sehr wichtig, sachlich zu bleiben. Diese Aktion ist meiner Meinung nach das Gegenteil: polemisierend, populistisch, wissenschaftsleugnend und unfair.

    2. Moritz Orendt
      Moritz Orendt · vor mehr als 3 Jahre

      @Rüdiger Fries Kann so sein, kann aber auch (aus meiner Sicht viel wahrscheinlicher) anders sein.

      Hier zum Beispiel auch die Ergebnisse von Opinary in verschiedenen Communities: https://twitter.com/Pi...

      Nicht jeder, der diese Videos nicht als "polemisierend, populistisch, wissenschaftsleugnend und unfair" ansieht, sondern vielleicht einfach manchmal grinsen muss, ist bei der AfD und bei den Querdenkern.

    3. Rüdiger Fries
      Rüdiger Fries · vor mehr als 3 Jahre

      @Moritz Orendt Das mag ja sein. Du unterstellst aber, dass diejeningen, die es kritisiert haben, es sich nicht angeschaut haben. Zu grinsen gibt es da nix für diejeningen, die sich den Arsch aufreißen in Kliniken oder Angehörige, Freunde, Bekannte verloren haben.

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 3 Jahre · bearbeitet vor mehr als 3 Jahre

      @Rüdiger Fries Woher wissen Sie, das von denen keiner grinst bei einigen der Filmchen? Das ist doch keine gleichgeschaltete oder homogenisierte Gruppe. Dort wird genau so diskutiert über Stärken und Fehler der Politik oder über die richtige Interpretation der Vorgänge. Auch wenn die Medien tendenziell eher die empörten Kritiker der umstrittenen Aktion bringen. So mein Eindruck. Gerade die, die Angehörige verloren haben, in Altersheimen etwa, sehen die Filme durchaus als berechtigt an.

    5. Rüdiger Fries
      Rüdiger Fries · vor mehr als 3 Jahre

      @Thomas Wahl Mag sein. Ich habe auch jemanden verloren und kein Verständnis für diesen zynischen Ton. Und ich verstehe die Botschaft einfach nicht.

    6. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 3 Jahre

      @Rüdiger Fries Das kann ich nachvollziehen. Aber jeder Jeck ist anders ...

    7. Moritz Orendt
      Moritz Orendt · vor mehr als 3 Jahre

      @Rüdiger Fries Hi Rüdiger, wo unterstelle ich, dass sich jemand die Videos nicht angeschaut hat?

    8. Rüdiger Fries
      Rüdiger Fries · vor mehr als 3 Jahre

      @Moritz Orendt Moin Moritz, vielleicht habe ich es falsch verstanden, aber ich bezog mich auf diese Gegenüberstellung: "die sich öffentlich äußern, das in extrem überwiegender Mehrheit alles sehr schrecklich fanden und diejenigen, die sich das angeschaut haben, es in überwiegender Mehrheit gut fanden."

    9. Moritz Orendt
      Moritz Orendt · vor mehr als 3 Jahre

      @Rüdiger Fries Danke Rüdiger, jetzt habe ich verstanden, auf was du dich bezogen hast. Und ich verstehe auch, dass man diesen Satz so verstehen kann. So war es aber nicht gemeint.
      Verstehe natürlich auch, dass man bei persönlicher Betroffenheit anders auf die Videos blickt.

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