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Kurator'in für: Fundstücke Volk und Wirtschaft
Dr. Anja C. Wagner beschäftigt sich mit globaler Transformation im digitalen Wandel. Sie gilt als kreative Trendsetterin und bezeichnet sich selbst als Bildungsquerulantin. Inhaltlich kreist sie um User Experience, Bildungspolitik, Arbeitsorganisation und unserer Zukunft in einer vernetzten Gesellschaft. Mit dem Unternehmen FrolleinFlow GbR bietet sie heute Studien, Vorträge, Consulting und verschiedene Online-Projekte an.
In Niederösterreich wird jetzt ein 3-jähriges Pilot- und Forschungsprojekt gestartet, das einer Umkehr der bisherigen Bringschuld der Erwerbsfähigen entspricht: Nicht mehr die Arbeitslosen befinden sich zentral in der Pflicht, auf Jobsuche zu gehen, sondern der Staat findet und schafft Arbeitsplätze, die die Menschen annehmen können (!), nicht müssen.
Konkret bedeutet dies, dass alle "Langzeitbeschäftigtenlosen" aus Gramatneusiedl, einem kleinen Ort nahe Wien, eine Jobgarantie seitens des Arbeitsmarktservices (AMS) erhalten. "Beschäftigung" meint natürlich bezahlte Erwerbsarbeit, eh klar. Diese soll nunmehr aktiv den Arbeitslosen seitens des AMS angeboten werden. Und das bedeutet, es muss räumlich vertretbar eine Arbeitsstätte gefunden werden.
Also braucht es Anreizsysteme für die Arbeitgeber*innen und die sieht wie folgt aus:
Wenn eine Gemeinde oder ein Unternehmen einen der Gramatneusiedler Langzeitarbeitlosen einstellt, bietet man an, drei Monate alle Kosten zu übernehmen. Für weitere neun Monate werden zwei Drittel der Arbeitskosten gedeckt.
So was in der Art kannten wir in Deutschland unter dem Begriff "Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen" (ABM). Diese wurden ab 2012 nicht mehr gefördert (offiziell als Resultat ihres Erfolges) - und bedienten auch eher das prekäre Segment.
In Niederösterreich ist man gespannt auf das Projekt, von dem im ersten Schritt 70 Personen mit "guter Arbeit" profitieren sollen, weitere können folgen. Begleitet wird das Ganze von Wissenschaftler*innen der Universitäten Wien und Oxford, die damit eine weitere große soziologische Forschung empirisch begleitend aufsetzen.
Bereits nach der Weltwirtschaftskrise wurde an diesem Ort eine der bedeutendsten soziologischen Studien durchgeführt: "Die Arbeitslosen von Marienthal" untersuchte die Wirkungen einer Fabrikschließung in der Marienthal-Siedlung in Gramatneusiedl in einer großen empirischen, bahnbrechenden, qualitativen wie quantitativen Untersuchung.
Die Siedlung existierte damals nur aufgrund der Fabrik - und von einem Tag auf den anderen waren dort alle arbeitslos. Paul Lazarsfeld, Marie Jahoda und Hans Zeisel gingen auf Empfehlung des damaligen Vorsitzenden der österreichischen Sozialdemokraten Otto Bauer der Frage nach, was diese soziale Katastrophe mit den Menschen macht. Die Ergebnisse spiegeln bis heute den Arbeitsfetisch der Sozialdemokratie als auch der Linken wider: Drei Viertel aller arbeitslosen Männer fielen in Apathie und Depression, wussten nichts mit ihrer Zeit anzufangen und verloren jede sinnvolle Tagesstruktur. Sie kannten ja nichts anderes in der aufkommenden Industriegesellschaft. Im Gegensatz zu den Frauen, die weiter den familiären Laden am Laufen hielten. (Davon und von dem Folgenden steht in dem verlinkten Artikel aber nichts.)
Ein weiteres wichtiges "Learning", von dem selten berichtet wird: Das Viertel der Männer, die (heute würde man sagen) resilienzfähig waren, überlebte diese Phase gut. Für sie war klar, dass dies eine zwar schwierige Lebensphase sei, aber bessere Zeiten wieder kommen würden. Sie planten ihr Leben nach dieser Katastrophe, während die Mehrheit sich in den Moment fallen ließ. Das ist vergleichbar zu der "trotzigen Zuversicht", wie sie auch das "Stockdale Paradox" zum Ausdruck bringt. (Ich hatte hier davon berichtet, ca. bei Minute 27.)
Krisenphasen zu durchleben mit Blick auf eine Zukunft, die vielleicht positiver ausfällt als der aktuelle Zustand, das wäre eine persönliche Eigenschaft, die alle Menschen im 21. Jahrhundert der VUCA-Welt ausprägen müssten. Und dabei sollten ihnen die bildungspolitischen Strukturen helfen.
Ob der Arbeitsfetisch entlang einer bezahlten Erwerbsarbeit dabei als stabilisierende Stütze gelten muss und weiterhin dauerhaft kann, zweifle ich an. Es gibt aber genug anderes zu tun. (Fragt mal all die Ehrenamtlichen und Care-Arbeiter*innen!) Lediglich die finanzielle Absicherung der Menschen muss gegeben sein. Mehr nicht. Geld steht dafür weltweit genug zur Verfügung. Nur über die Verteilung müssten wir sprechen.
Bin trotzdem sehr auf die Untersuchungsergebnisse gespannt. Immerhin macht man sich Gedanken. Und das ist gut so!
Quelle: András Szigetvari Bild: Bildersammlung Ma... www.derstandard.at
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