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“Der Plan der Hamas ist gescheitert”

Theresa Bäuerlein
Journalistin. Autorin. Seit (gefühlt) schon immer.
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Theresa BäuerleinFreitag, 13.10.2023

Nach einer Horror-Woche in Israel und einer nie dagewesenen Gewaltwelle in Israel, die noch längst nicht zu Ende ist – der Gegenschlag der Israelis hat noch kaum begonnen – gibt es in den bisherigen Analysen wenig Grund zur Hoffnung. Stattdessen viele Spekulationen bis hin zu Szenarien eines dritten Weltkriegs. 

Dieses Interview mit dem Islamismus-Experten Olivier Roy ist anders. Roy geht davon aus, dass der Angriff der Hamas kolossal schiefgelaufen ist. Und zwar deswegen, weil die Hamas mit viel mehr Widerstand gerechnet hätten. 

Die Hamas hat einen horrenden, auch für sie selbst zerstörerischen Fehler begangen: die barbarischen Massaker an einer grossen Zahl von israelischen Zivilisten. Ich wäre nicht überrascht, wenn sie nicht geplant waren, jedenfalls nicht in diesen Dimensionen [...] Es ist davon auszugehen, dass die Hamas mit viel grösserem militärischem Widerstand gerechnet hat, dass sie nicht damit rechnete, so weit auf israelisches Territorium vordringen zu können. Sie hat ihre fanatisierten Kämpfer wohl über die Grenze geschickt in der Erwartung, sie würden sich hauptsächlich Feuergefechte mit Militär­einheiten liefern – und das abscheuliche Morden geriet dann wohl auch deshalb vollkommen ausser Kontrolle, weil die Hamas häufig gar nicht auf militärische Truppen, sondern auf Zivilisten stiess [...] Mit den Massakern hat sich die Hamas schwerst beschädigt, vermutlich selbst zerstört. Ohne die Massaker hätte der Überfall auf Israel für sie ein strategischer Erfolg sein können: eine militärische Bravour­leistung, gefolgt von einer Geisel­nahme im grossen Stil. In der aktuellen Lage werden ihnen die Geiseln keinen entscheidenden Nutzen mehr bringen.

Roy glaubt auch nicht, dass der Iran hinter dem Überfall der Hamas steckt. 

Es erscheint evident, dass es die Hamas-Führung selbst war, die sich für den Krieg entschieden hat – nicht der Iran. Wenn der Iran die Fäden ziehen würde, dann hätte er einen Dreifronten­krieg gegen Israel gestartet: Angriffe nicht nur aus Gaza heraus, sondern auch von Norden durch die Hizbollah und in den besetzten Gebieten im Westjordanland [...] Es ist im Übrigen auffällig, dass die israelische Regierung nicht den Iran für den Hamas-Überfall verantwortlich macht. Und auch die iranische Führung hat ja explizit deklariert: Wir haben damit nichts zu tun.

Warum also hat die Hamas Israel überhaupt jetzt angegriffen? 

Die Hamas ist in einer Sack­gasse gewesen. Es gibt nun schon seit langen Jahren ein Arrangement zwischen der Hamas, Israel und der internationalen Gemeinschaft: Die Hamas herrscht vollkommen unangefochten und autokratisch über 2,2 Millionen Palästinenser, bekommt internationale Hilfs­gelder und verwaltet den Gaza­streifen. Sie ist eine Art Gaza-Regional­verwaltung, eingesetzt oder zumindest geduldet von Israel und der internationalen Staaten­gemeinschaft. Politisch aber wird die Hamas nicht anerkannt. Die meisten westlichen Mächte betrachten sie nicht als legitime Vertreterin palästinensischer Ansprüche, sondern als Terror­organisation. Sie hätte sich in Gaza wohl noch sehr lange an der Macht halten können, aber sie hat nicht die geringste politische Perspektive. Diese Blockade wollte die Hamas mit ihrem Angriff auf Israel durchbrechen.

Der israelische Gegenschlag wird furchtbares Leid über die Zivil­bevölkerung in Gaza bringen, davon ist leider auszugehen.

 In politischer Hinsicht ist jedoch ein anderer Aspekt entscheidend: Der Überfall der Hamas führt dazu, dass der Palästina-Konflikt sich regionalisiert. Dieser Krieg wird kaum zu einem internationalen Brenn­punkt werden, der die ganze arabische Welt gegen Israel mobilisiert [...]Die Barbarei der Terror­akte der Hamas hat die arabische Solidarität unterminiert. So etwas kann und will man nicht mittragen. Das wird auch längerfristige Konsequenzen haben.

Und schließlich, glaubt Roy, werde der Krieg das gemäßigte Israel stärken und zwar aus zwei Gründen: 

Erstens: Netanyahu ist politisch tot. Er hat die rechteste, nationalistischste, ultrareligiöseste Regierung aller Zeiten geführt – und sicherheits­politisch vollkommen versagt. Zweitens: Die Israelis müssen jetzt an die Front gehen – nur die Ultraorthodoxen werden in ihren Talmud-Schulen bleiben, weil ein grosser Teil von ihnen vom Militär­dienst dispensiert ist. Das wird die Forderungen der Ultrareligiösen nicht populärer machen. Kriege führen häufig zu ideologischer Radikalisierung. Aber in Israel dürften nun eher die pragmatischen Kräfte gestärkt werden.

“Der Plan der Hamas ist gescheitert”

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Kommentare 6
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor einem Jahr

    Auch wenn ich solche absoluten Aussagen wie “Der Plan der Hamas ist gescheitert” für verfrüht halte (wer kennt den Plan der Hamas?) - es sind interessante Aspekte. Wir werden sehen …

    1. Theresa Bäuerlein
      Theresa Bäuerlein · vor einem Jahr

      Ja, wir werden sehen. Als Ergänzung empfehle ich noch dieses Stück hier, welches auch darlegt, dass die Hamas selbst überrascht vom Ausmaß ihres Angriffs war https://www.newyorker....

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Jahr

      @Theresa Bäuerlein Danke, das sind in der Tat interessante Informationen. Das die Hamas von ihrem Erfolg selbst überrascht war, klingt erst mal plausibel. Trotzdem wirkt das ganze wie ein monströses Selbstmordattentat dieser Organisation. Ich kann kein halbwegs rationales Ziel erkennen. Beängstigend….

  2. Hermann J. F. König
    Hermann J. F. König · vor einem Jahr

    Danke für die Vermittlung dieser sehr überzeugenden Ananlyse!

  3. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor einem Jahr

    Den sehr anregenden Oliver Roy las ich schon gestern, hier nun ergänzend einige sehr unterschiedliche Beiträge, die ich seitdem las. Noch scheint offen, wohin sich alles entwickelt. Einig scheinen sich viele, dass es einschneidend war und ist.

    Jörg Lau und Michael Thumann halten in der ZEIT einen großen Krieg noch für möglich:
    https://www.zeit.de/20...
    (Hinter Bezahlschranke)
    Ihr Fazit:
    Der Krieg gegen die Ukraine und der Angriff auf Israel sind bei allen Unterschieden miteinander verbunden wie kommunizierende Röhren. Einerseits versucht die Biden-Regie-
    rung nun, die Waffenhilfe für die Ukraine und für Israel gemeinsam vom Kongress absegnen zu lassen. Andererseits droht in der Gleichzeitigkeit der Kriege eine Gefahr. Sollten die USA
    in den kommenden Monaten gefordert sein, den Verbündeten Israel noch stärker mit Waffen und Krediten zu unterstützen,würde die ohnehin brüchige Solidarität mit der Ukraine weiter unter Stress kommen. Jede Granate, jede Rakete, jedes Flugabwehrsystem lässt sich nur einmal abgeben.

    Eva Illouz ist sich hier sicher: https://www.nzz.ch/feu...?
    Das Verbrechen, das sich in Israel ereignet hat, ist nicht wie andere Massaker. Der Feind, der tief in die Privatsphäre der Zivilbevölkerung eindrang, und die Tatsache der anhaltenden Lähmung des gesamten Systems haben eine traumatisierende Erfahrung des Terrors bewirkt. Die Hamas hat bewiesen, dass sie in ihrer Fähigkeit zu Terror und Meuchelmord sogar den Islamischen Staat übertrifft. Dieses Trauma wird die politische Kultur Israels wahrscheinlich auf unumkehrbare Weise verändern. Israel wird nicht mehr sein, was es bis zum 7. Oktober 2023 gewesen ist."

    Anrührend fand ich diesen Beitrag von Ivan Ivanji:
    https://taz.de/Folgen-...
    Ich fühle mich zum ersten Mal seit meiner Befreiung aus dem Konzentrationslager vor 78 Jahren als Jude.

  4. Hartmut Bischoff
    Hartmut Bischoff · vor einem Jahr

    Merci dafür.
    Das ist das Intelligenteste, was ich im gleichgeschalteten deutschsprachigen Raum über den Konflikt gelesen habe.
    Gut, dass sich die Schweiz an diesem Wahnsinn nicht beteiligt.
    Auch im angelsächsischen Raum gibt es neben den vielen krieglüsternden Mitläufern hin und wieder ernstzunehmende, den Horizont weitende Beiträge, wie z.B.

    KIM GHATTAS

    All involved in the Israel-Hamas conflict should heed the warnings of 1982
    Every fresh attempt to wipe out Palestinian militant groups only forges more extreme iterations
    https://www.ft.com/con...

    Zusammen mit dem hier vorgestellten Beitrag bekommt man – in meinen Augen – einen guten Überblick über die Dimensionen des Konflikts.

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