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Literatur

Aus der anderen Welt: Lana Lux Debüt "Kukolka"

Aus der anderen Welt: Lana Lux Debüt "Kukolka"

Lena Gorelik
Autorin
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Lena GorelikDonnerstag, 14.09.2017

Es gibt beim Lesen guter Bücher Romane diesen Moment: Wenn der Roman kein Roman mehr ist. Wenn man zum Beispiel in der Bahn beim Lesen aufschaut und erstaunt feststellt, dass man die Haltestelle verpasst hat, an der man hätte aussteigen sollen, nicht, weil man die richtige Haltestelle vergessen hat, sondern das andere: Dass man sich überhaupt in der Bahn befindet. Weil im Roman, da befindet sich der Protagonist und mit ihm der Leser gerade an einem ganz anderen Ort. Über solche Romane sagt man dann, der Autor oder die Autorin entführe einen in eine andere Welt.

Die Welt, in die Lana Lux Roman "Kukolka" einen entführt, ist eine, der man auf den ersten Seiten bereits wieder fliehen möchte. Das möchte man dann über beinahe 400 Seiten hinweg, man zittert mit Samira, die das auf diesen Seiten verzweifelt, verbissen, zuweilen auch verwirrt versucht. Man möchte zusammen mit Samira ihrem Schicksal entfliehen oder dem, was das Mädchen als Leben kennen lernen muss. Weil Samira aber am Beginn des Romans klein ist - und selbst am Ende ist sie erst fünfzehn, auch wenn sie wie achtzehn aussieht und mehr durchgemacht hat als die meisten von uns bis zum Lebensende -, weil Samira am Anfang nur ein kleines, fünfjähriges Mädchen mit großen braunen Augen ist, und man ihr noch nicht zutraut, alleine fliehen zu können, möchte man nichts lieber als das: Sie diesem Leben, diesen Seiten, entreißen, sie packen und in eine andere Wirklichkeit stecken, in eine, in der die UN-Kinderrechtskonvention etwas zählt. So groß denkt man bei diesem Roman, dabei hat man nur die ersten paar Seiten gelesen.

Der Roman setzt da ein, wo Samiras Erinnerung beginnt: Sie ist fünf. Sie wächst in einem ukrainischen Kinderheim auf. Dunkle Augen hat sie, dunkle Haare, dunklere Haut als die anderen Kinder, weshalb sie Zigeunerin genannt wird, aber was das bedeutet, davon hat sie keine Ahnung. Etwas Gutes kann das nicht heißen, das ist mehr Gefühl als Wissen, und mit ihren Eltern wird es wohl zu tun haben, aber wie das sein kann, weiß Samira nicht, die glaubt, niemals Eltern gehabt zu haben. Das Leben in einem ukrainischen Kinderheim ist so trist wie hoffnungsleer, es wird in Schläge wie Strafen anstatt in Stunden eingeteilt. Samira ist fünf Jahre alt, und Lana Lux hat diese Gabe: Uns die Welt einer Fünfjährigen zu schenken. Man nennt es den Kinderblick, und der Kinderblick ist etwas, woran Romane häufig scheitern: Weil es eben Erwachsene sind, die die Romane schreiben. Und weil wir Erwachsenen uns an einzelne Gefühle aus der Kindheit erinnern, aber nicht mehr wissen, wie es ist, einen Stuhl hinaufklettern, eine Lichtschalter erreichen, sich die Welt erklären, erobern zu müssen. Deshalb ist dieser Roman so gut: Weil Lana Lux den kindlichen Blick nicht verloren hat. Sie sieht die Welt mit Samiras Augen, die sich diese Welt zurecht denkt, kindliche Fantasien findet, wo sie keine Erklärungen bekommt, als Wahrheit annimmt, was ihr als solche präsentiert wird.

An jedem letzten Samstag Monat kommen Paare ins Kinderheim, die an einer Adoption interessiert sind. Die Kinder werden zurecht gemacht, man könnte sagen, sie werden zurecht gestutzt, mit geraden Rücken in Reihen und Kreise aufgestellt, sie sollen sich von ihrer besten Seite zeigen. Sie wissen noch nicht, dass sie auch ihrer Würde beraubt werden, aber sie wissen, dass diese Paare, wenn sie wieder gehen, die Hoffnung und die Träume mitnehmen. An einem solchen Samstag wird Samiras beste und einzige Freundin auserwählt, sie wird von einem deutschen Ehepaar adoptiert. "Er roch nach Seife und Minze und Parfum. Er roch reich", schreibt Lana Lux, denkt Samira, über den Deutschen, und das ist einer dieser Sätze, die den Roman so besonders machen: Sie sind kurz, aber sie sagen alles und mehr. Das Ehepaar nimmt Samiras beste Freundin mit, die ihr einen Schatz und einen Traum hinterlässt; beides wird Samira von nun an durch die Hölle, die sie Leben nennt, begleiten: Eine Barbie. Und das in einem Brief enthaltene Versprechen ihrer besten Freundin, dass ihre neuen Eltern bestimmt auch Samira adoptieren werden. Samiras Traum heißt: Deutschland.

Mit dem Traum im Kopf flieht Samira aus dem Kinderheim und wird auf der Straße von Rocky aufgelesen, der sie mit ebendiesem Traum lockt: Wenn sie für ihn betteln geht, verspricht er ihr, würde er für sie - gegen Kost und Logis - Geld sparen, damit sie genug für eine Fahrkarte nach Deutschland hat. Bei Rocky lernt Samira betteln, klauen und kochen und so vieles andere, was ein Kind nicht kennen sollte: Was Abhängigkeit ist, was Drogen, eine Abtreibung und auch den Tod. In knappen, und deshalb so grausamen Beschreibungen lässt Lana Lux Samira, die von Rocky schnell in "Kukolka" umgetauft wird, was so viel wie Püppchen bedeuten, erwachsen werden. Niemals heischt die Autorin zu sehr um Mitleid, weshalb einem beim Lesen die Tränen kommen. Das Püppchen ist zwölf, als sie meint, ihre große Liebe zu treffen: Einen jungen Zuhälter, der ihr erst die Welt vor die Füße legt und ihr selbst den größten ihrer Träume erfüllt: Sie mit nach Deutschland zu nehmen. Wo er sie kurzerhand an Freier verkauft und drogenabhängig macht. Spätestens hier hat man als Leser den Glauben an jegliches Happy End verloren.

Der Roman ist auch ein Bericht geworden: Er berichtet eine Welt, vor der wir gerne die Augen verschließen. Alles, was Samira durchmachen muss, leben Mädchen in unseren Städten. Sie verrotten in diesem Leben. Lana Lux gibt Samira am Ende eine Chance, dem Grauen zu entkommen; der Leser ist ihr hierfür ausgesprochen dankbar, und verschließt vielleicht gerne die Augen wieder: Weil es in der Realität leider meist anders läuft.

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Kommentare 2
  1. Annika Reich
    Annika Reich · vor 7 Jahren

    Meine Tochter (14) und ich haben es beide an einem Wochenende gelesen. Sie: "Das ist so schlimm, aber noch toller als schlimm."

    1. Lena Gorelik
      Lena Gorelik · vor 7 Jahren

      Das ist eine der besten Rezensionen in einem Satz!

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