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Literatur

Graustufen – Leben in der DDR in Fotografien und Texten

Quelle: Jürgen Hohmuth "Graustufen", Edition Braus

Graustufen – Leben in der DDR in Fotografien und Texten

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtMittwoch, 13.12.2017

Im Februar bekam ich eine Anfrage des Fotografen Jürgen Hohmuth, er suchte Autoren, die für ein Buchprojekt zu seinen Fotos Texte schreiben sollten. Ich freute mich und fühlte mich geehrt, denn seit ein paar Jahren kaufe ich für unsere Küche die Fotokalender von Jürgen Hohmuth mit Bildern, auf denen der Prenzlauer Berg noch aussieht, wie er aussah, als ich hierher gezogen bin. Bei der Küchenarbeit fällt mein Blick manchmal auf ein Kalenderbild und ich studiere es mit nie nachlassendem Staunen, wobei ich meine Erinnerung überprüfe und versuche, die Differenz in Worte zu fassen und mich gleichzeitig selbstkritisch befrage, was ich davon halten würde, immer noch so zu leben. Es gibt inzwischen einige großartige Bildbände, die Berlin und die DDR in dieser Zeit zeigen, alleine im Lehmstedt-Verlag sind Bücher von Harald Hauswald, Bernd Heyden, Roger Melis, Gerd Danigel, Gundula Schulze Eldowy und vielen anderen erschienen. Manche dieser Fotografen hatten "bürgerliche" Berufe wie Telegrammbote, was ihnen den Rücken für ihre eigentliche Tätigkeit freihielt (und wodurch sie viel herumkamen.) Jürgen Hohmuth war, bevor er Fotografie u. a. bei Arno Fischer studierte, Zapfenpflücker, ein unschlagbares Künstlerbiographie-Detail. Die Autoren, die zum Buch Texte beigetragen haben (einige davon hätten sicher auch alle Bilder selbst betexten können) waren irgendwann einmal Rotationsarbeiter, Straßenmusiker, Schriftsetzer, Filmvorführer, Krankenschwester, Zerspanungsfacharbeiter, Optiker, Buchhändler, Chemie-Ingenieur, oder haben in der Druckerei eines achtzigjährigen Meisters Essenmarken für die Uni gedruckt (wobei manche danach oder stattdessen auch Germanisten, Theaterwissenschaftler oder Philologen wurden). Das waren zwar oft keine frei gewählten Werdegänge, aber man definierte sich damals nicht unbedingt über seine Karriere und die Erfahrungen, die diese Tätigkeiten brachten, waren sicher lehrreich, auf jeden Fall aber nützlich, um heute etwas zu diesen Bildern zu sagen, denn die Autoren kennen die DDR auch von Unten. (Ingo Schulze beschreibt sein schlechtes Gewissen gegenüber den Arbeitern, weil man als Student automatisch als Ja-Sager galt.) In den Texten wehren sich manche geradezu gegen den Heimweh-Sog, der von den Bildern ausgeht, während andere froh sind, dieses Leben hinter sich gelassen zu haben. Vielleicht liegt die verführerische Wirkung daran, daß die Bilder nicht die politischen Verhältnisse zum Thema haben (obwohl die natürlich immer mitschwingen), sondern die Alltagswelt, und die unterschied sich von heute teilweise so radikal, daß man sich immer wieder wundert, wie solche Veränderungen in ein Leben passen können. Man hat ja den Staat verachtet und nicht unbedingt das Land (wie Christoph Dieckmann schreibt), das sich lange kaum verändert hat (oder wirkt das nur auf den Bildern so?). Man sieht viele ältere Menschen in Kleidung, die anscheinend schon für den Rest ihres Lebens angeschafft worden ist, beim Warten, Arbeit wird nicht hastig und vermutlich ohne Existenzangst ausgeführt (was ich nicht romantisieren will, denn dazu gehört auch, daß die Kohlenmänner die Briketts vors Kellerfenster kippen und die Frauen sie mit den Händen selbst in den Keller werfen müssen). Man sieht eine junge Frau, die sich im Hinterhof "oben ohne" auf den Schreibtisch gelegt hat, um das bißchen Sonne, das durchs Fenster fällt, auszunutzen. Man sieht Männer auf dem Rummel mit finsterem Gesicht in wundervollen Fahrzeugen Karussell fahren. Eine Narva-Mitarbeiterin in Kittelschürze steht neben dem Pausentisch, auf der Wachsdecke das traurige Stillleben aus Brille, Seltersflasche, Seifenbüchse, Aschenbecher, Kaffeetasse. Der Junge, der in Jena-Neulobeda einen Ball an der Plattenbaufassade hochschießt (durch die Fugen konnte man die Höhe gut einschätzen). Die erste Reihe eines Pankow-Konzerts, Typen, denen ich damals lieber aus dem Weg gegangen bin (die Band hatte Credibility), im Jeansanzug, im Trenchoat (im Sommer!), mit Schnurrbartflaum, einer hat einen anderen "Style", eher Breaker mit Jogginghose und Stirnband, kurz überlege ich, ob ich mich selbst entdecke, aber ich war nie bei Pankow. Die Telefonzelle, von innen beschlagen (und mit schön gebogenem Türgriff, hätte ich mir mal rechtzeitig abschrauben sollen!) Schaufenster, deren Gestalter offenbar keine Kunden anlocken mußten, es aber pro forma und ziemlich hilflos trotzdem versuchten, weshalb mit weißer Schrift "Fleischknochen, Speck" an der Scheibe steht und sich die typischen Pyramiden von Ladenhütern türmen, nicht knappe und dadurch auch schon praktisch unverkäufliche Produkte, wie Pampelmusensaft, Sultaninen und Rotkohlgläser. (Wie geschickt und aufdringlich dagegen die Werbung heute.) Der Plattenladen mit dem emblematischen Preis "16,10" (für eine LP), die Schaufensterpuppe hält eine "Scheibe" der damals (in meiner Welt) unverkäuflichen Band Karat in der Hand. Der tätowierte, junge Dreher in der Werkhalle, der herausfordernd in die Kamera guckt. Die fröhlichen Jungs, die in einer Sperrmülltonne nach Schätzen wühlen, als das noch kein soziales Stigma war, sondern ein Abenteuer (einen Autoscheinwerfer und ein Metallgewicht haben sie gefunden. Dem einen hängt ein Botas-Turnbeutel von "den Tschechen" über der Schulter, gibt’s jetzt wieder "in retro".) Die Passage am S-Bahnhof Schönhauser, wo heute die Arkaden stehen, damals aber jahrelang ein Bauzaun ("FRIEDEN IST NICHT SEIN SONDERN TUN" verkündet ein Plakat, das ihn verschönt, wie wahr!, und andererseits wie öde, so von oben belehrt zu werden.) Weiße Wäsche in Hinterhöfen, deren Fassaden grau und schmutzig aussehen, aber es ist eine schönere Farbe als das traurige Gummizellen-Weiß überstrichenen Rauhputzes von heute. Die Belforter Straße ohne den architektonischen Offenbahrungseid des peinlichen "Palais KolleBelle", aber dafür mit vielen Parklücken (jetzt haben alle die Autos, die sie damals wollten, und jammern über die Parksituation). Jena, wie es '83 aussah, als wir mit dem Ferienlager einen Ausflug dorthin unternahmen und nach Süßigkeiten ausschwärmten (daß die Fassaden so nach Endzeit aussahen fiel uns als Jugendlichen nicht auf). Die Jungs, die sich bei einer Demonstration ein "Weg mit dem NATO-Raketenbeschluß"-Schild gesichert haben, grinsend tragen sie ihre Beute durch die Straßen (ja, die Kinder sind auf den meisten Bildern fröhlich, während viele Erwachsene müde wirken). Die Schulklasse, die an der Schönhauser über dem Geländer hängt und darauf wartet, daß Gorbatschow vorbeifährt, Karottenhosen, weiße Söckchen, Winkelemente und gute Laune (weil einen ganzen Vormittag der Unterricht ausfällt). Die Brötchen-Schlange vor der Feinbäckerei (heute steht man bei Hokey Pokey nach Eis an und findet das schick). Der kleine Junge in Strumpfhosen, der auf dem Tisch sitzt und aus dem Plattenbaufenster auf eine Plattenbaufassade schaut (heute denkt man: was für eine kinderfeindliche Umgebung, aber ich weiß es ja besser, es war herrlich, in so einer Umgebung Kind zu sein, vor allem, als es noch die ganzen Baustellen gab, fast glaube ich es mir selbst nicht). Das Einfach-Küchenfenster mit dem vollgemüllten, breiten Fensterbrett (auf dem ein russisches Glas steht, ich habe es noch). Solche breiten Fensterbretter gab es nur im Altbau, da wollte ich abends drauf sitzen, und in den Sternenhimmel sehen und Rotwein trinken, denn so wurde man praktisch von ganz alleine Dichter (Altbausehnsucht). Die vollgekritzelte Wohnungstür des Fotografen (es gab ja kein Telefon, also ging man zu Besuch und schrieb an die Tür, daß man da gewesen war, vielleicht schrieb der Besuchte gerade bei einem selbst an die Tür.) Gut 40 Autoren haben Texte beigetragen, eine gute Idee, denn so kommen unterschiedliche Perspektiven zu ihrem Recht, das Land hat sich nicht für jeden gleich angefühlt, es hing doch sehr von den persönlichen Umständen ab. Mit vielem in den Texten konnte ich mich identifizieren, z. B. wenn an den Rummelplatz in der Brache am S-Bahnhof Pankow erinnert wird (heute bebaut), wo man als Schüler die Currywurstbude aufsuchte "dauerhungrig und immer den Gerüchen nach". Gerüche sind sowieso sehr dominant in der Erinnerung, man liest von Schmieröl, Bohrmilch, Kohlen, Bier, Urin, Kochfisch, Orangenschalen auf Ofenplatte, Sellerieknollen, Erde, Äpfeln, Rhabarbersaftflaschenetikettenknochenleimklebstoff. Es wird von kleinen Triumphen berichtet, die man Bürokratie und Mangel abgerungen hat. Die Kompetenzen, die man dafür entwickelt hat, sind heute kaum mehr gefragt. Rechtzeitig vor Mitternacht, bevor die Kneipe schließt, noch fünf Liter Bier in einen Eimer abfüllen und damit zu Hause weiterdiskutieren. Morgens auf dem Heimweg Brötchen klauen, weil die Lieferanten sie einfach vor den Geschäften abstellen. Nach Budapest trampen, um "Stranger than Paradise" zu gucken. Als unabhängiger Buchhändler in Volksbuchhandlungen Bücher kaufen, um sie seinen eigenen Kunden zum gleichen Preis weiterverkaufen zu können. Als Bausoldat bei der MHO (Militärische Handelsorganisation) Schulterstücke kaufen und auf der Heimfahrt im Zug anlegen. Im Kopf stets eine Karte von allen Telefonzellen im Umkreis von zwei Kilometern haben. Abends zu den Containern im Viertel spazieren und nach Schätzen suchen. Eine Wohnung besetzen, in der zwischen Wand und Scheuerleiste Schirmpilze wachsen. An der Teppichstange im Hof Bauchwelle üben. Wird unser heutiger Alltag in 30-40 Jahren auch so exotisch, poetisch, rührend, traurig, ärmlich, interessant und fern wirken?

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