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Literatur

Im Vorübergehen

Im Vorübergehen

Jan Kuhlbrodt
Autor und Philosoph

*1966 in Karl-Marx-Stadt
Studium in Leipzig und Frankfurt am Main
Redakteur bei EDIT und Ostraghege
freier Autor
letzte Veröffentlichungen: Kaiseralbum (Verlagshaus Berlin), Das Modell (Edition Nautilus), Die Rückkehr der Tiere (Verlagshaus Berlin)

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Jan KuhlbrodtFreitag, 24.07.2020

Kurzgeschichten und Gedichte haben am Buchmarkt einen schweren Stand.

Kurzgeschichten und Gedichte haben aber einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem, was in der Literatur sonst bevorzugt wird. Der Roman ist in seiner Verpackung zumeist recht klobig und passt in keine Jackentasche. Die Lektüren stehen über, man kann auf einer Zugfahrt beginnen, wenn sie aber nicht, wie der Roman um die Welt geht, oder wenigstens große Teile eines Kontinents überwindet, muss man die Lektüre abbrechen und im nächsten Zug neu ansetzen. Vom Nahverkehr ganz zu schweigen.

Kurzgeschichten hingegen passen zuweilen in eine Straßenbahnfahrt, zum Beispiel in eine von mir zu Hause bis zum Leipziger Hauptbahnhof. Dort könnte ich dann in einen Roman umsteigen, aber meist hat mir die Straßenbahngeschichte so viel Spaß bereitet, dass ich dabei bleibe, und in der anfallenden eingesparten Zeit Muße entwickle, aus dem Fenster zu schauen, den Anblick der Landschaft und Städte genieße, die ich im Waggon durchquere. Vielleicht kann man sagen, dass die Kurzgeschichte dem Vielleser so einen Weltkontakt offen hält, auch wenn sich die Welt im Licht nach den Lektüren immer auch ein wenig verschiebt.

Ich fahre zuweilen durch Landschaften, die ich schon tausendmal sah, und doch erscheinen sie mir auf eine Art neu, dass ich mich erst einmal orientieren muss. Und ich glaube, das ist der Effekt, den eine Kurzgeschichte auslöst, seit Hebel, seit Kafka, vor allem seit ich den amerikanischen Short Stories begegnet bin, also seit Brautigan und Davis unter anderen, und eben auch seit ich die Kurzgeschichten von Jürgen Theobaldy kenne, die gerade im verlag die brotsuppe erschienen sind.

„Geschichten im Vorübergehen“ heißt der Band und trägt so gewissermaßen die Beschreibung eines ganzen Genres im Namen. Denn im Vorübergehen oder eben im Vorüberfahren verschiebt sich die Perspektive. Und Theobaldy ist ein Meister darin, zu zeigen, wie Erwartungshaltungen unterlaufen werden, sowohl die der Protagonistinnen und Protagonisten, als auch die der Leserinnen und Leser. Wenn zum Beispiel über Nacht in einer Kleinstadt ein ladenzertümmernder Mob gewütet hat, und wie durch ein Wunder ein Tabakladen, der edles und teures Rauchzeug anbietet von der Verwüstung verschont blieb. Die Auflösung, soviel sei an dieser Stelle verraten, hat etwas mit den Punks der Stadt und ihren Hunden zu tun.

Theobaldy lebt in Bern, und diese Stadt bildet überwiegend den lokalen Hintergrund der Plots.

Die Geschichten des Bandes bewegen sich je über wenige Seiten, manchen reicht auch eine einzige, und zeichnen Konstellationen die ganz der Short Story gemäß vom Ich-Erzähler geschildert einen Wendepunkt im Leben der Protagonisten markieren, oder eben jenen Moment, da ihre Eigenart das Getriebe der Welt dazu bringt, in einen anderen Gang zu schalten. Oftmals werden Begegnungen gezeigt, die so notwendig wie kurios sind, zum Beispiel wenn sich an einer Haltestelle Fußballfans mit Parlamentsabgeordneten mischen.

Es ist eine Pausenlektüre. Sie passt in die Segmente zwischen den Tätigkeiten. Man muss allerdings acht geben, dass man der Sucht nicht erliegt und wie früher, als man die Pausen noch zum Rauchen nutzte, sich künstlich Anlässe schafft, die Arbeit zu unterbrechen.

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Kommentare 5
  1. Anita H
    Anita H · vor mehr als 4 Jahre

    Verwandt im Geiste. Ich gebe auch Kurzgeschichten den Vorzug gegenüber Romanen. Mein Einstieg, vor vielen Jahren ;-), in die amerikanischen Short Stories war Ring Lardner.

    Danke für die Vorstellung von Theobaldy und besonders für diesen Satz: "dass die Kurzgeschichte dem Vielleser so einen Weltkontakt offen hält, auch wenn sich die Welt im Licht nach den Lektüren immer auch ein wenig verschiebt."!

  2. Yvonne Franke
    Yvonne Franke · vor mehr als 4 Jahre · bearbeitet vor mehr als 4 Jahre

    Wie ist es mit dem Schreiben, Jan? Steigst Du unterwegs auch manchmal in ein Notizbuch um? Und wenn ja: in welchem Vehikel geht das am besten für Dich?

    1. Jan Kuhlbrodt
      Jan Kuhlbrodt · vor mehr als 4 Jahre

      ich hab ms. was meine handschrift so vergrößert hat, dass ein notizbuch nix mehr nützt. ich notiere in den rechner und aus den notizen bau ich mir dann die texte.

    2. Yvonne Franke
      Yvonne Franke · vor mehr als 4 Jahre

      @Jan Kuhlbrodt Ein digitales Notizbuch dann eben. :-)

    3. Jan Kuhlbrodt
      Jan Kuhlbrodt · vor mehr als 4 Jahre

      @Yvonne Franke ja genau.

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