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Quelle: http://www.warschau-frankenstein.de/de/galerie.html
Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Vor ein paar Jahren, als ich noch manchmal ziellos durch die Sender streifte, entdeckte ich eines nachts auf 3sat, diesem dünn besiedelten Flecken in der Peripherie der Programmlandschaft, "Warschau Frankenstein", eine Doku, in der dem Künstler Boris Sieverts bei der Arbeit zugesehen wurde. Diese bestand darin, eine Reiseroute für eine Wanderung durch die Randgebiete von Warschau zusammenzustellen, wobei Randgebiete hier typologisch gemeint ist, nicht geographisch, denn Ränder kann es auch im Zentrum geben, in Warschau ganz besonders.
Der Künstler, der in Köln ein "Büro für Städtereisen" betreibt, war in einem modern und steril eingerichteten Studio mit Blick über die amorphe Warschauer Innenstadt untergebracht, wo er am Beginn seiner Mission, die mit Unterbrechungen ein Jahr dauern würde, einen riesigen, aus Einzelteilen zusammengeklebten Stadtplan studierte, als handle es sich um ein graphisches Kunstwerk. Er suchte nach auffälligen Strukturen, dem Nebeneinander verschiedener "Körnungen", die auf fehlende Stadtplanung oder auf sich überlagernde historische Schichten hinweisen konnten. Am Stadtrand fielen ihm ungewöhnlich lange, gerade Kanten auf, an denen die Bebauung abrupt endete, oder ein Teppich sehr schmaler, langgestreckter Felder, die durch wiederholte Teilung des Familienbesitzes entstanden waren und die, wenn sie jetzt nach und nach bebaut wurden, einen polnischen "barcode urbanism" ergaben. Was ihn auf der Karte oder auf Google Earth reizte, sah er sich auf langen Wanderungen zu Fuß und mit dem Fahrrad an, wobei er abseits der City im Niemandsland aus Stadtrand, neuen Siedlungen, verwitterter Infrastruktur, Brachen, Feldern, Parkplätzen oder dem unbefestigten Weichselufer voller Begeisterung Dinge entdeckte, die andere abstoßend gefunden oder schlicht nicht bemerkt hätten. Halb fertige Einfamilienhäuser, deren Erbauer sich offenbar noch nicht entschieden hatten, wie ihr Haus einmal aussehen sollte, unbefestigte Wege zwischen Datschen, Trampelpfade entlang von Schienensträngen, das helle Weiß eines Wohnwagens vor einer grauen Plattenbaufront. Am meisten war an Orten zu entdecken, die selbst für den Blick der Bewohner, die täglich daran vorbeigingen, gar nicht existierten. (Anders unsichtbar sind die Sehenswürdigkeiten im Zentrum der Städte, die zwar ständig fotografiert, aber im Grunde nie gesehen werden, weil das Bild, das man schon im Kopf hat, zu mächtig ist.)
Sieverts fotografierte das Netzwerk improvisierter oder zu verschiedenen Zeiten angelegter Wege und nachträglich gepflasterter Trampelpfade, das zwischen den Hochhausblöcken entstanden war, solche Pfade hätten "etwas Absolutes", weil es für sie immer einen Grund gebe, irgendetwas, auf das sie zuführten, eine Pforte in einem Zaun, eine Unterführung oder eine Verkaufsbaracke, man konnte sich darauf verlassen und ihnen folgen. Er suchte nach Verbindungsstücken zwischen Wegstrecken, die er für seine Tour schon eingeplant hatte, wobei er immer die Wirkung auf die Besucher im Blick hatte, die am Ende mit ihm diese Tour machen würden. Ein zweistöckiger, von außen abweisend wirkender Bau mit Betonfassade, in dem sich überraschenderweise ein prunkvoll-kitschiges Restaurant befand, konnte z.B. als Schleuse von der Ebene des Gestrüpps auf seiner Rückseite auf die Ebene der Schnellstraße, die man vom oberen Stockwerk aus erreichte, dienen. Die Besucher der Tour würden diesen Bau, wenn sie sich ihm von hinten näherten, häßlich finden, dessen war sich Sieverts schon sicher, aber sie würden, indem sie hindurchgingen, den Raum ganz anders erfahren, und um diesen Widerspruch ging es ihm. Im Lauf eines Jahres plante Boris Sieverts auf diese Weise akribisch Meter für Meter einer zweitägigen Tour durch die Ränder von Warschau, mit einer Zelt-Übernachtung zwischen Bäumen und Sträuchern eines Wohnviertels.
Warschau sei eine Stadt, die wie Frankenstein zusammengenäht wurde, die Narben seien noch sichtbar, aber für ihn habe es trotzdem seine Anmut, genau wie das Monster. Der Raum, in dem sich das öffentliche Leben abspielt, ist nicht groß, die Wohnbezirke außerhalb besucht niemand, man reist auch nicht zwischen ihnen hin und her. Gerade solche Orte sind es aber, die Sieverts interessieren, weil sie da sind, aber nicht im Bewußtein. Die Tour führte durch Schrebergärten, über Schnellstraßen, durch Plattenbauviertel, über Rodelberge, an einer Bahnlinie entlang, man balancierte ein Stück über Fernwärmerohre, verlief sich im Regen in einem Waldstück, dann stand man plötzlich vor einem Einkaufscenter, durch das der Weg führte, wobei der Kontrast zu dem Stück Wildnis, in dem man sich gerade befunden hatte, das Center plötzlich interessant machte. Was auf den ersten Blick ein suburbanes Niemandsland war, das Ergebnis von sozialistischem Massenwohnungsbau und postsozialistisch privatisierter suburbaner Besiedlung, entpuppte sich, wenn man seine Vorurteile einmal ablegte - wodurch Erfahrung ja erst möglich wird-, als Stadttext, den man lesen konnte, und der mehr erzählte als die emblematischen Gebäude oder Plätze, mit denen Städte um Besucher oder Bewohner warben. Man müsse zunächst einmal akzeptieren, daß die Gebäude in solchen Gebieten "einfach herumstehen", dann könne man den Raum dazwischen erfahren. Die Schönheit ist immer da, man muß sie nur sehen, Pastellfarben von Plattenbauten im Herbstnebel, die majestätische Größe des Dehnungsbogens einer Fernwärmeleitung, der die Straße überspannt wie ein Stadttor, wobei in diesem Fall tatsächlich ein Neubauviertel dahinter liegt, das reizvoll dissonante Nebeneinander von neu entstandenen Gated Communities, älteren Plattenbauvierteln, Villen-Solitären und Feldern, auf denen noch Landwirtschaft betrieben wird.
Daß die Gruppe, die Sieverts seinen Pfad entlangführte, am Abend des ersten Tages etwas erschöpft war, war für ihn durchaus wünschenswert, denn diese Erschöpfung könne "auch dazu führen, daß ich mich der Bilder, die ich unterwegs sehe, nicht mehr erwehren kann, daß ich, um Energie zu sparen, aufhöre, sie einzuteilen in die Schubladen, die ich vielleicht habe."
Mir war diese Kunst sofort einleuchtend und sympathisch, vielleicht ein bißchen, weil ich aus Ostdeutschland stamme, einer ganzen Region, die "existiert hat, aber nicht im Bewußtsein", nicht einmal unbedingt der Bewohner, die gewohnt waren, ihre eigene Lebenswelt abzuwerten und schon gar nicht im Bewußtsein vieler Besucher, die sie als grau und deprimierend empfanden, was sie allerdings schon gewußt hatten, ohne hinsehen zu müssen. Vielleicht aus einer Art Solidarität haben mich "graue und langweilige" Orte in der Peripherie immer besonders gereizt, man wurde hier eher überrascht als im Zentrum oder in der pittoresken Altstadt, die Lebensspuren wurden nicht verwischt, die Trampelpfade, die nachträglich betonierten Schwellen, die überwucherten Müllberge, die alten Spielplätze und historisch gewordenen Plakate an den Wänden, die überklebten Namen an den Klingelbrettern, die Autowracks, die übriggebliebenen Obstbäume von aufgegebenen Gärten.
Ein paar Jahre nach meinem nächtlichen Fernseherlebnis durfte ich mir für eine Veranstaltung in Köln einen Künstler als Bühnenpartner wünschen und ich bat darum, Boris Sieverts anzufragen, der tatsächlich mitmachte. Er schlug vor, mit Google Earth einen Rundflug über das Plattenbaugebiet am Rand von Ostberlin, in dem ich aufgewachsen bin, zu unternehmen, die Bilder wurden auf die riesige Leinwand der Theaterbühne projiziert. Ich hatte mein Viertel bis dahin noch nie aus der Vogelperspektive gesehen und es war interessant, wie Boris die graphische Struktur der Wege, der Vegetation, der Wohnblöcke, der Bahnschienen las, ich konnte ihm davon erzählen, was ich an diesen Orten als Kind erlebt hatte, an welchen Stellen durch Fehlplanung Windkanäle entstanden waren, in die wir uns mit ausgebreiteten Anoraks stellten, um abzuheben, wohin die Trampelpfade führten, wo wir Höhlen gebaut hatten, wo wir Fußspuren im frischen Asphalt hinterlassen hatten, wo jahrelang Baumaterialien rumgelegen hatten, die uns als Versteck dienten.
Nachdem ich nun länger darüber nachgedacht habe, was für mich ein geglückter Lauf ist, scheint mir, daß die Kunst von Boris Sieverts dafür ein Vorbild sein könnte. Ein geglückter Lauf bedeutet nicht nur eine Erfahrung für den Körper, sondern auch für den Kopf. Er läßt sich nicht wiederholen, er läßt sich auch nicht planen, er entsteht, wenn man dazu bereit ist und das bin ich beim Laufen zuverlässiger als beim Gehen. Manchmal studiere ich vor dem Loslaufen Stadtpläne und suche mir graphisch auffällige Erscheinungen, um sie laufend zu erkunden, z.B. in Leipzig das Wohnensemble um den Siegfriedplatz, das aus der Luft gesehen kreisrund ist, eine kilometerlange Mole im Hafen von Constanţa, eine besonders lange Fußgängerbrücke, einen Kanal, der durch ein Industriegebiet fließt. Es ergibt sich dann aber meistens, daß ich unterwegs zu improvisieren beginne, weil mich ein Trampelpfad reizt, oder im Gegenteil, ich möchte eine Weile geradeaus auf Asphalt laufen, ohne über den Weg nachdenken zu müssen, oder ein Hügel lockt (anders als auf dem Fahrrad braucht man beim Laufen keine Gangschaltung, man kann sein Tempo an Steigungen stufenlos anpassen) und belohnt einen mit einer überraschenden Aussicht über riesige Schienenanlagen, über die als Krönung auch noch eine Fußgängerbrücke führt.
Könnte ich das auch beim Spazieren erleben? Das Gebiet, das ich dann erkunden könnte, wäre viel kleiner, ich würde es als unangenehm empfinden, in meiner Alltagskleidung zu schwitzen, andererseits würde die Ermüdung fehlen, die, wie Boris Sieverts sagt, dazu führt, daß man sich gegen die Bilder nicht mehr wehrt. Außerdem fehlt natürlich die Befriedigung, etwas für seine Gesundheit zu tun, beim Spazieren habe ich eher das Gefühl, meinen Körper abzunutzen wie die Sohlen meiner Schuhe. Laufen ist ein Ausnahmezustand, der sich gesund anfühlt. Der gleichmäßige Rhythmus beim langsamen Laufen, die Versorgung des Gehirns mit Sauerstoff, der schnelle Wechsel der Szenerie, die Freude daran, zu so einer Bewegungsform überhaupt fähig zu sein, wenn man doch im Alltag ohne vorherige Erwärmung vor Schmerzen in den Gelenken kaum in der Lage ist, 50 Meter zur Straßenbahn zu rennen, oder sich wegen der verkürzten Muskeln nur noch mühsam die Schuhe zubinden kann (ich überlege deshalb, ob ich zu Slippern übergehe.)
Auf Reisen in Städte, die allgemein (und auch von den Bewohnern) als häßlich empfunden werden, waren mir in den ersten Tagen auch manchmal Zweifel gekommen und ich fragte mich, warum ich nicht stattdessen nach Venedig oder Kopenhagen gefahren war. Aber ich konnte darauf vertrauen, daß es einen magischen Moment geben würde, in dem ich plötzlich eine tiefe Freude empfand, hier zu sein, wenn sich der Schleier hob und man zu sehen begann, nicht selten geschah das während eines Laufs. Es ging dann nicht mehr um "häßlich" oder "schön", sondern um Intensität. Dann wurde aus hundert verschieden gestalteten Balkons einer Plattenbaufront ein komplexes Durcheinander, dessen Details man stundenlang studieren konnte, Kohlekraftwerke wurden zu kubistischen Kompositionen, die Vegetation auf Baustellensandbergen wurde zum Botanischen Garten, Gullydeckel, die noch aus der Zeit des vorletzten Regimes stammten, wollten fotografiert werden, die mächtigen Betonpfeiler, über denen sich das Dach einer Autobahntrasse aufspannte, die die Stadt in zwei Hälften schnitt, waren eine beeindruckende, brutalistische Skulptur. Und dann lief man wieder zurück ins Zentrum und geriet in Menschentrauben, die in Abendgarderobe vor einem Opernhaus auf den Einlaß warteten, oder Straßenkinder rannten einem hinterher wie Rocky Balboa, oder ein streunender Hund schloß sich einem für eine Weile an. Und wenn es anschließend nicht gelingen wollte, das Erlebte in Worte zu fassen, war es wahrscheinlich ein geglückter Lauf.
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Hallo Herr Schmidt, ich hatte gerade eben mal wieder einen beglückenden Internet-Moment: ich hatte eine Email von Boris Sieverts bekommen, weil ich mich mal vor längerer Zeit in seine Adressenliste der Städtereisen-Interessenten eingeschrieben hatte. Ich bin auf ihn aufmerksam geworden durch einen Fernsehbeitrag, wo u.a. auch die Warschau-Tour vorgestellt wurde. Der Zugang zu einer Stadt auf diese Weise hat mich so unglaublich fasziniert, und ich würde diesen Film sehr gern noch einmal sehen, aber ich wusste nicht mal den Titel mehr. Beim googeln bin ich dann auf Ihren Beitrag "Laufen 7" gestoßen, und ich glaube bei Ihnen eine ähnliche Faszination herauszulesen. Jedenfalls weiß ich dank Ihnen nun, dass der Film Warschau-Frankenstein heißt. Ob das die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ich ihn nochmals sehen kann, weiß ich nicht. Man kann so viel Käse auf DVD kaufen, aber Dokumentationen selten. Und diese Perle leider nicht. Jedenfalls habe ich seit diesem Film einen anderen Blick auf meine Umgebung; diese Kunst hat mich berührt und verändert. Ich wünschte, Herr Sieverts würde mal Pforzheim so erfahrbar machen, denn Pforzheim ist eine überwiegend ungeliebte Stadt. Eines meiner unverwirklichten Projekte ist eine Stadtumrundung zu Fuß, inspiriert durch diesen Künstler. Aber dafür brauche ich erst ein neues Hüftgelenk.
Es war schön, Ihren Beitrag zu lesen. Viele Grüße Regina Seber