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Literatur

Mein kleiner Buchladen – Hörbücher: Lucia Berlin

Mein kleiner Buchladen – Hörbücher: Lucia Berlin

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnSamstag, 08.07.2017

Mit fauchendem Herzen! So hätte ich das Hörbuch genannt, Was ich sonst noch verpasst habe heißt es hingegen. Eher abschreckend. Es handelt sich um Stories der amerikanischen Autorin Lucia Berlin, welche als Buchausgabe von 2015 in meiner Bibliothek ausgeliehen waren und deshalb in Form eines Hörbuches in meinen Laden wanderten. Ich wollte es innerhalb von zwei Wochen durchhören, ein Experiment. 6 CDs, 420 Minuten, gelesen von Anna Thalbach. Das könnte ich doch im Computer laufen lassen, während ich meine verkauften antiquarischen Bücher suche, einpacke und mit Briefmarken versehe. Dachte ich. Schon bei einer der ersten Geschichten ging der Plan schief. Ein verkauftes Exemplar aus der Abteilung Lexika nötigte mich, eine Leiter zu besteigen und auf dem letzten Tritt stehend nach dem Buch zu hangeln. Fensterecke ganz oben. Anna Thalbach las gerade die Episode, in welcher die kindliche Ich-Erzählerin ihrem Großvater alle verbliebenen Zähne zieht. Ich balancierte auf einem Fuß und stocherte im Halbdunkel zwischen den Russisch, Slowakisch- und Tschechischwörterbüchern umher, den Mund halboffen, bis ich mein Spiegelbild in der Fensterscheibe bemerkte, den zum Glück leeren Hinterhof als Kulisse. Ich hatte längst vergessen, wie das Buch hieß, das ich suchte, wie sein Autor und welche Farbe der Einband aufwies - ohne diese Informationen gerät eine Büchersuche schnell ins absurde. Ich stieg die kleine Leiter hinab, mich bei Film und Musik festhaltend und lauschte, wie der Großvater nuschelnd befahl, ihm jetzt sofort das Kunstgebiss einzusetzen. Als ich das zu suchende Buch anklickte, es handelte sich übrigens um Das kleine Reformationslexikon eines Herrn Pietsch und ich war bei den Buchstaben R-T erstaunlich nah dran gewesen, quietschte die Tür und ein Nachbar kam fragen, ob sein Paket von letzter Woche bei mir gelandet wäre, er vermisse eines. Nein, ich war knapp und ungehalten, denn just auf dem Weg zur Ladentür bemerkte ich, dass ich vergessen hatte, den Recorder zu stoppen. Tahlbachs Stimme säuselte mir hinterher, ohne dass ich ein Wort verstehen konnte. Ich donnerte die Tür hinter dem erschreckten Nachbarn zu und erwog, mich einzuschließen. Das hätte zu lange gedauert, wieder nach hinten. Zwei Büchersuchen ging alles glatt, aber die Story um das mexikanische Mädchen mit dem schwerkranken Baby erwischte mich vor dem Kinderbuchregal. Buchstabe A-D, Märchenbücher von Andersen und eine gebundene Bummiausgabe erkannte ich, alles andere verschwamm. Lucia Berlin beschrieb, Anna Thalbach hauchte es heraus, wie sie das Kind schüttelt, und schüttelt, bis es still ist. Jetzt wusste ich nur nicht, welches Buch ich suchte, ich sah auch nichts mehr.

Mein Schreibtisch steht im zweiten Raum eines dieser typischen Berliner Lädchens, der vorne einen größeren Raum mit Schaufensterscheibe und schmaler Tür daneben aufweist, hinten die Kammer mit Toilettenzelle und Waschbecken. Alles ist vollgestopft mit Büchern, über zwanzigtausend habe ich inzwischen hier stehen. Die CD aus dem Computer erreicht bei voller Lautstärke gerade noch die zweite Reihe des hinteren Raums, also Kunst bis Esoterik und Religion.

„Üble Gerüche können nett sein. Ein schwacher Geruch nach Stinktier im Wald, Pferdedung bei den Rennen, fast das Beste an Tigern im Zoo ist der animalische Gestank...“ Die Thalbach flüstert und seufzt solche Sätze, als ginge es um die Beschreibung eines Geschlechtsaktes. Ich sitze vor dem Computer und starre auf den Bildschirm. Wilhelmine von Preußen, ihre Biografie wurde verkauft, ich weiß, ich muss in den vorderen Raum, wo die Biografien stehen und klicke diesmal auf Pause. Mit diesem Satz im Ohr: „Bei Stierkämpfen saß ich gern ganz oben, um alles sehen zu können, wie in der Oper,...“ bis hierhin lässt sie die Stimme wie die eines Mädchens klingen, so leicht und naiv – im nächsten Halbsatz zieht sie die Worte sanft nach oben, bis zum grell ausgerufenen letzten Wort: „aber wenn man neben der Barriera sitzt, riecht man den Stier!“ Ich tappe zum Biografie-Regal und fingere bei W bis Z, irgendwas mit Wilhelm, oder? Wie ärgerlich, wieso verkauft sich Olga Benario von Ruth Werner eigentlich nicht mehr, und wieso steht sie nicht bei Belletristik? Ach ja, damals war Belletristik überfüllt und ich musste auf Bio ausweichen, wie riecht eigentlich ein Stier? Ich kann es aufgeben, zurück an den Schreibtisch, schauen, wie das Buch hieß, ach Quatsch, eigentlich kann ich noch ein bisschen zuhören.

So lief das einige Tage und spätestens, als ich eine empörte Email von der Käuferin der Wilhelmine Biografie bekam, die sich beschwerte, dass sie zwei Exemplare bestellt und bezahlt!! hätte, aber nur eines erhalten habe, war mir klar, ich musste Lucia Berlin aus meinem Laden verbannen. Es kam gerade passend, dass ich ein paar Tage aufs Land fahren wollte. Ich hörte beim Autofahren über Brandenburgs Landstraßen zu, wie die Mutter der Ich-Erzählerin an Bord eines Schiffes ihr kleines herzförmiges Gesicht in einem Mantelkragen versteckt und sich eine schöne Zukunft ausmalt, ihre Kinder nicht lieben kann, sich über Mexikaner empört, mit der älteren Tochter eines Nachmittags Konservendosen über den Küchenboden rollen lässt und vom Vater ins Bett geschickt wird. Wie Lucia Berlin, denn keine andere schien durch all diese Geschichten stärker hindurch als sie selbst, die ihre trinkende Mutter dennoch liebt, Telefondienst im Krankenhaus verrichtet, die Häuser anderer Leute putzt, Bus fährt, die Schwester zu Tode pflegt, mit fauchendem Herzen die Zeit stillstehen fühlt, in der Karibik taucht und mit einem Austerntaucher unter Wasser Sex ... da hatte ich prompt ein Stoppschild überfahren und nur dank der mittäglich verschlafenen Stunde niemanden gerammt.

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Kommentare 2
  1. Andreas Schabert
    Andreas Schabert · vor mehr als 7 Jahre

    Herrlicher Text und Danke für den Tipp! Habe mir gleich das Hörbuch gekauft. Leitern werde ich vermeiden ;-)

    Anna Thalbach ist einfach eine hervorragende Interpretin (man mag hier gar nicht von Lesen reden).

    Vor kurzem Fegefeuer von Sofi Oksanen gehört, gesprochen von Anna und Katharina Thalbach. War auch ein tolles Erlebnis.

    1. Anne Hahn
      Anne Hahn · vor mehr als 7 Jahre

      danke, auch für den tipp - ich muss das dann mal zu hause ausprobieren...

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