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Kurator'in für: Flucht und Einwanderung Literatur Fundstücke Zeit und Geschichte
Dissertation über John Berger (Dr. phil.). Seine Essays und Interviews, seine Reportagen und Rezensionen erscheinen u. a. in Neue Zürcher Zeitung, Blätter für deutsche und internationale Politik, Sinn und Form, Jacobin und Lettre International. Als Historiker wertet er den in der Berliner Staatsbibliothek vorliegenden Nachlass seines Vaters aus. So erschienen »Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute« (2010, zusammen mit Ernst Engelberg) oder die von ihm herausgegebene Neuedition von Ernst Engelbergs »Bismarck. Sturm über Europa« (2014). Als Buchautor publizierte er zuletzt das literarische Sachbuch »An den Rändern Europas« (2021).
Der angebliche Skandal: Kein Westdeutscher, kein ehemaliger östlicher Dissident erhielt den International Booker Prize, sondern Jenny Erpenbeck.
Ob in Paris oder Tel Aviv, ob in New York oder Shanghai: die in eine kommunistische Familie hineingeborene, in Ostberlin aufgewachsene Autorin ist eine wichtige literarische Stimme aus Deutschland. Als Einstieg empfehle ich HEIMSUCHUNG.
Nun hadern einige mit dieser Entscheidung und diffamieren die Botin, um ihre Erzählungen zu ignorieren. Nicht mit ihren Texten argumentiert man, sondern behauptet:
Im Kontext der Ostdeutschlanddebatte bedient sie damit jene nostalgischen und antifreiheitlichen Gefühle, jene blödsinnige Ostdeutschtümelei, die historisch haltlos, politisch irrelevant sind, aber im Grunde einer Sehnsucht nach einem Gestern Platz geben, das auch durch die damit verbundenen Gefühle weder besser noch humaner wird: Mauer bleibt Mauer.
Nicht wegen dem Autor wählte ich diesen Text als Unpick aus, sondern weil er frei zugänglich ist und beispielhaft für eindimensionale Stimmen der "Ostdeutschlanddebatte" ist.
Wer diese über die letzten Jahrzehnte verfolgt, erkennt, dass alten Meinungsführer langsam, aber beständig die Deutungshoheit entgleitet. Dennoch sind sie noch machtgestützt. Allesdings wird die neue unsichtbare Mauer immer deutlicher.
Das ist auch ein Befund des Soziologen Steffen Mau in seinem gerade erschienenen Buch UNGLEICH VEREINT mit dem bezeichnenden Untertitel WARUM DER OSTEN ANDERS BLEIBT.
Es geht also nicht mehr um Angleichung zwischen Ost und West.
Bereits 1991 war sich der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Hans Mayer (1907-2001) in seinem Buch DER TURM VON BABEL sicher:
Im von Cornelia Geißler geführten Interview aus dem Jahr 1995 heißt es dazu:
Der Einigungsvertrag hat ganz tiefe Wunden gerissen, die unnötig waren. Und zweitens bin ich der Meinung, daß das, was ich in meinem Buch "Turm von Babel" geschrieben habe, was damals fürchterlich im Westen angegriffen wurde, einfach a matter of fact geworden ist, wenn ich schrieb:"Die DDR ist eine deutsche Wunde, die noch lange nicht heilen wird."
Heute sagt das jeder, damals war das ganz schlimm, was ich gesagt habe, und ich bin fast krank geworden, physisch schwer krank, an den Angriffen, die ich damals mit meinem Buch erleben mußte. Was nicht verhindert hatte, daß dieses Buch heute in italienischer, französischer und japanischer Übersetzung vorliegt. Man sollte also da wieder recht behalten. Und so meine ich, die Kultur der DDR besteht weiter.
Das es jeder sagt, wie Hans Mayer behauptet, stimmt leider nicht wie dieser eindimensionale Unpick-Text zeigt.
Bei Hans Mayer war der Vorwurf der "Ostdeutschtümelei" besonders falsch, da dieser 1963 die DDR verlassen hatte.
Heute wird zunehmend und offen widersprochen. So beruft sich Clemens Meyer in seinem aktuellen Buch CHRISTA WOLF ausdrücklich auf Mayers DER TURM VON BABEL.
Ein weiteres Beispiel findet man im Gespräch mit der Filmemacherin Grit Lemke
Es gibt natürlich einen Unterschied zwischen Kolonialismus in Afrika und dem, was hier im Osten passiert ist ... Die strukturelle Ungleichheit innerhalb eines Staates wie bei uns nennt man in der Wissenschaft internen Kolonialismus.
Interner Kolonialismus?
Ja, darüber gibt es Bücher, und ich habe mich ein bisschen damit beschäftigt, weil es mich wirklich interessiert. Wie Irland, Schottland und Wales von England behandelt wurden zum Beispiel – und das ja auch, ohne dass jemand abgeschlachtet wurde. Kolonialismus sagt etwas über ein asymmetrisches Verhältnis aus, darüber, wie die eine Seite mit der anderen umgeht. Die Annahme der Überlegenheit einer Seite, weil ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Herkunft als wertvoller angesehen wird. Das ist genau das, was hier im Osten auch passiert ist.
Jetzt kann man argumentieren, der für diesen Unpick ausgewählte Autor Ilko-Sascha Kowalczuk wuchs auch in der DDR auf. Allerdings stieg er im Windschatten der versuchten geistigen Abwicklung der DDR auf.
Mauer bleibt Mauer, so tönt er in seinem Text.
Allerdings gerät dadurch aus dem Blick die vertane Möglichkeit DDR und das Verdrängte des Einigungsprozesses.
Bei Jenny Erpenbeck, aber auch anderen ostdeutschen Autoren wie Clemens Meyer kommt hinzu: ihr Stoff und ihre Position erlaubt es ihnen, bei geschichtlichen Stoffen, das gesamte 20. Jahrhundert in den Blick zu nehmen, dessen Nachwirken im 21. Jahrhundert markant zu Tage tritt.
Einem westdeutschen Autor jenseits der im Osten geborenen, verstorbenen Generation Günter Grass oder Siegfried Lenz ist das aus eigener Erfahrung nicht möglich.
Quelle: Ilko-Sascha Kowalczuk, Gegenrede: Hans Mayer, Grit Lemke u. a. Bild: Wolfgang Schmidt/... taz.de
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Na ja, so eindimensional sind die "Stimmen der "Ostdeutschlanddebatte" …" ja nicht. Immerhin steht mindestens eine Stimme (die ja so allein nicht ist), die den Booker Price gewonnen hat gegen eine andere, die man auch oft und mit anderen in vielen Medien lesen kann. Und beide Seiten haben durchaus mächtige Gruppen hinter sich. Es ist also ein durchaus demokratischer Streit. Und natürlich bleibt Ostdeutschland anders, wie Bayern etc. auch.
Und wer soll denn "die Möglichkeit DDR" vertan haben, wenn nicht wir Ostdeutschen großteils selbst? Im Westen hätte die CDU wohl nicht noch mal so eine Mehrheit bekommen. Ich sehe eher, dass viele Ostdeutsche ihre eigene Vergangenheit verdrängen. 1990 wurde mir oft Prügel angedroht, wenn ich gesagt hab, die schnelle Einführung der DM wird uns alle mindestens einmal arbeitslos machen. Heute gibt es schimpfe für die Bemerkung, Putin ist kein Partner für den Frieden und die Zukunft. Was soll man einem solchen Volk raten??
Ich finde, Kowalczuk hat recht …..
Na, da hast Du ja mal ordentlich gebrüllt ;-) Ich finde Kowalczuks Text gar nicht eindimensional, sondern pointiert.