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Literatur

Laufen 6: Paavo Nurmi - Genußlaufen oder Verdrußlaufen? (Teil 1)

Quelle: Kaila Toivo: Paavo Nurmi - Elämä, tulokset ja harjoitusmenentelmät

Laufen 6: Paavo Nurmi - Genußlaufen oder Verdrußlaufen? (Teil 1)

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtFreitag, 14.09.2018

Wenn ich Dr. Ernst van Aaken ("Dauerbewegung als Voraussetzung der Gesundheit", "Programmiert für 100 Lebensjahre. Wege zur Gesundheit und Leistungsfähigkeit") glauben darf, dürfte ich beim Joggen, um positive Effekte für meine Gesundheit zu erzielen, nie so schnell laufen, daß ich außer Atem kommeMan sollte fast täglich lang und möglichst langsam laufen ("LSD"-Methode: long slow distance). Leider neige ich zum Überpacen, selbst, wenn ich mir einen regenerativen Genußlauf vornehme, laufe ich am Ende oft doch wieder gegen die Uhr, sobald ich die Möglichkeit erkenne, eine gute Zeit zu schaffen. Wie Ijon Tichy in Stanislaw Lems "Sterntagebüchern" auf seiner siebten Reise in eine Zeitschleife gerät und in seinem Raumschiff immer mehr Inkarnationen seiner selbst aus Vergangenheit und Zukunft begrüßt, wird mit jedem Lauf der Pulk von früheren Ichs, gegen die ich antrete, größer. Manche haben einen uneinholbaren Vorsprung, anderen laufe ich davon, denn ich bin noch nicht bereit, mich beim Wettlauf mit meinen früheren Versionen mit dem letzten Platz abzufinden. Der Kampf um Sekunden bei übertourigem Tempo hat mir dabei meistens durchaus Freude gemacht, es war ein gutes Gefühl, sich zu verausgaben. Vielleicht gibt es einen Zusammenhang zu der Tatsache, daß ich auch mein Essen viel zu schnell zu mir nehme, was ich mir einfach nicht abgewöhnen kann. (Kafka "fletcherte", dabei kaut man auf jedem Bissen, auch bei Suppe, mindestens 30 Mal. Weil Kafka damit andere Kurgäste nicht stören wollte, setzte er sich abseits.) Auch beim Fahrradfahren in der Stadt würde ich mich weniger über andere ärgern, wenn ich es nicht immer so eilig hätte. Wobei ich dann vielleicht zum Ärgernis für andere werden würde.

Daß ich mich Dank Lauftraining irgendwann dauerhaft gesünder gefühlt hätte, kann ich nicht behaupten, mein Eindruck war eher, daß ich mich trotz passender Kleidung im Winter nur umso häufiger erkältete, aber ich habe natürlich keine Gegenprobe. (Wenn ich einen eineiigen Zwilling hätte, könnte man ausprobieren, wie es ihm gesundheitlich bekommt, auf Gluten zu verzichten, wie Novak Djokovic, oder nach van Aaken zu trainieren statt nach Woldemar Gerschlers Intervalltraining Freiburger Prägung.) Vielleicht bin ich jahrelang "falsch" gelaufen (obwohl es schwer fällt zu glauben, daß man etwas so Natürliches wie Laufen dauerhaft falsch machen kann) und habe dabei weder mein Immunsystem gestärkt, noch Fett abgebaut, geschweige denn Endorphine ausgeschüttet, woran ich aber sowieso nicht glaube (wenn Populärwissenschaftler mich damit beeindrucken wollen, unser Gefühlsleben und unsere Persönlichkeit auf Biochemie und Hirnanatomie zu reduzieren, stelle ich mich gerne dumm.)

Ich habe lange versucht, meine 10-Kilometer-Zeit zu verbessern, einfach, indem ich als Höhepunkt der Trainingswoche möglichst schnell 10 Kilometer gerannt bin. Weil ich dabei an Grenzen gestoßen bin, habe ich mit einer Art Intervalltraining experimentiert, was noch schnelleres Laufen bedeutete (ich hatte vom Felix-Magath-Test gelesen, den er seinen Spielern abverlangt, 10 Mal 800 Meter unter 3 Minuten mit einer Runde Traben dazwischen.) So ging das jedes Jahr bis zum Herbst, wenn die erste Erkältung kam und die Tempo-Saison beendete oder die Luft zu kalt für schnelles Atmen wurde. Ich wäre gerne einmal unter 40 Minuten gekommen, es ist mir nie gelungen (und der Weltrekord wurde fast doppelt so schnell gelaufen.) Wahrscheinlich bin ich gar nicht für meine Gesundheit gelaufen, für den Gedanken war ich noch zu jung. Wofür dann? Um abzunehmen? Eher wollte ich abnehmen, um schneller zu laufen. Um mir durch eine Leistungssteigerung vorgaukeln zu können, daß ich im letzten Jahr nicht älter geworden bin? Es war tatsächlich immer ein gutes Gefühl, zu sehen, wie viel fitter man war als eine Schulklasse, die sich im Stadion vor einer Leistungskontrolle oder bei einem Sportfest zwei Runden einlaufen sollte und schon dabei Gehpausen einlegte, manche versteckten sich auch hinter der Hochsprunganlage. (Jugendliche mögen in der Regel keinen Dauerlauf.) Es gibt 70jährige, die auf der Mittel- und Langstrecke schneller sind, als ich je war, das macht mir Hoffnung. Wobei ich mich frage, ob ich mich je damit motivieren können werde, den körperlichen Verfall durch Sport zu verlangsamen, statt besser zu werden? Es ist wahrscheinlich wie immer im Leben, man muß lernen, die Motivation aus der Freude an der Sache zu schöpfen statt aus der Hoffnung auf Belohnungen durch sich oder andere.

Zum Glück habe ich auch immer einen anderen Typ Lauf betrieben, eine Art urbanen Orientierungslauf, vor allem auf Reisen, ich hätte es spontan "urban trail running" genannt, wenn ich nicht gerade gelesen hätte, daß es den Begriff bereits gibtWeil es mich ärgert, daß ich beim Spazieren zu geringe Distanzen hinter mich bringe, und weil ich dabei vom Wetter abhängig bin, weil ich nicht gerne in Straßenkleidung schwitze, weil es kaum bequemere Schuhe als Laufschuhe gibt (im Grunde ist jeder moderne Laufschuh ein orthopädischer Schuh, wenn nicht sogar eine Prothese) und weil ich ja sowieso laufen gehe und es sich anbietet, die Zeit zu nutzen, um etwas von der Stadt oder Gegend zu sehen, habe ich meine Scham irgendwann überwunden und bin in fremden Städten laufen gegangen, mit dem Fotoapparat in der Hand, so daß ich immer wieder anhielt, um etwas zu knipsen. Anfangs habe ich mir Parks gesucht oder Flußläufe (was in Osteuropa und Asien manchmal schief ging, weil dort an Flüssen der meiste Müll lag und das Wasser nicht selten fürchterlich stank), erst viel später habe ich bemerkt, daß man zum Laufen gar keine Natur braucht, lange Magistralen, möglichst mit Unterführungen, spektakuläre Brücken, Industriegebiete, Hafenanlagen eignen sich genauso. Es lenkt einen beim Laufen von der Anstregung ab, wenn die Umgebung sich ständig ändert und man Architektur, kubistische Fabriken und Kraftwerke, Großbaustellen oder kuriose Kunst im Straßenbild entdeckt. Wenn ich keine Karte habe, oder der Kartenausschnitt, den man am Hotelempfang vom Abreißblock bekommt, wieder viel zu klein ist, reiße ich mir den Stadtplan aus dem Branchenbuch, das manchmal auf dem Zimmer in einer Schublade verstaubt, den tue ich in eine Plastikhülle und stecke ihn hinten in die Laufhose. Aber ich gucke meistens gar nicht drauf, weil es viel reizvoller sein kann, sich ein bißchen zu verlaufen.

Ich habe festgestellt, daß man als Läufer verkleidet eine gewisse Narrenfreiheit genießt, wenn man in halböffentlichen Räumen auftaucht, auf Hinterhöfen oder im Hofbereich von Plattenbauvierteln, wenn man Parlaments- oder Museumstreppen hochrennt, die Abkürzung durch den Parterrebreich einer Mall nimmt oder ein Stück auf der Straße läuft, weil einem der Bürgersteig zu eng oder zu voll ist. Und wenn sich doch jemand daran stört, ist man kann ja schnell wieder weg, und schließlich macht man Sport, da kann man keine Rücksicht auf rote Ampeln nehmen. Wenn ich doch an einer stehen muß, nutze ich die Zeit zum Dehnen, wobei ich immer Angst habe, beim Dehnen der Waden den Ampelmast umzukippen.

Bei einem Aufenthalt in Helsinki hat sich mein urbanes Laufen kürzlich wieder bewährt, die Stadt eignet sich hervorragend zum Joggen, es gibt viele steile Hügel, eigentlich sind es Felsen, die hier und da den Asphalt durchbrochen zu haben scheinen, man kann sich kaum beherrschen, sie nicht alle hochzuklettern. Vor allem gibt es viel Küste, Strände und ausgedehnte Hafenanlagen mit weit in die Bucht reichenden Molen, man kann eine Reihe Halbinseln umrunden, auf denen man manchmal ganz allein mit der Natur ist. Es gibt auch einen Wald in der Stadt, auch hier findet man Felsen, über die man laufen kann, als sei man in der Wildnis. Waldläufe über Stock und Stein schulen die Koordination.

Mir scheint es ein positiver Indikator für das Sozialleben zu sein, wenn man in Städten vielen Läufern und Radfahrern begegnet. Vielleicht ist die These gewagt, aber gibt es einen Zusammenhang von Zivilgesellschaft, Demokratie und (individuellem, nichtprofessionellem) Sport in der Öffentlichkeit? Obwohl sich zum Laufen Wald und Natur anzubieten scheinen, ist Joggen eher eine urbane Kultur, eine nonchalante, friedliche Nutzung des öffentlichen Raums. (In der Pilotfolge von "Ausgerechnet Alaska" joggt der New Yorker Arzt Dr.Fleischman, der gegen seinen Willen in eine Kleinstadt in Alaska versetzt wurde, durch den Ort - hier ab 28:00. Er genießt zwar die ungewohnte Natur, aber er ist hier auch der einzige, der sie zum Laufen nutzt. Sein gewohntes, urbanes Verhalten, das für die Einwohner exotisch ist, soll seine Entwurzelung illustrieren.) Ich war in Städten, die sich hervorragend zum Laufen geeignet hätten, wo ich aber nur wenigen Läufern begegnet bin (höchstens sah ich dort durch die Scheiben von Fitneßcentern Läufer auf Laufmaschinen.) Waren Arbeitsleben und Alltag hier so hart, daß man keine Kraft mehr für Sport hatte? Oder war die urbane Kultur so wenig entwickelt, daß die Toleranz der Mehrheit für das Verhalten von Minderheiten fehlte?

Die Frage ist aber wahrscheinlich viel komplexer, Laufen ist ein Luxus, man demonstriert, daß man über seinen Körper verfügen kann und ihn (anders als ein Gerüstbauer) nicht zum Geldverdienen braucht. Man kann ihn bewegen, um ihn gesund zu erhalten und muß seine Gesundheit nicht durch harte oder monotone körperliche Arbeit ruinieren. Abseits vom Profisport könnte Laufen etwas für die Mittelschicht sein. (Die anderen spielen Golf oder stemmen Gewichte.) Aber es hat auch etwas mit der Art zu tun, wie öffentlicher Raum beansprucht wird. In Helsinki fuhren die Autofahrer defensiv, an Zebrastreifen wurde immer gehalten, auch wenn ich gar nicht die Straße überqueren wollte. 400 Kilometer östlich, in Petersburg, schien mir aggressives Autofahren für viele (vor allem Männer) ein Ventil zu sein, Rücksichtslosigkeit wurde mit individueller Freiheit verwechselt. Wo öffentlicher Raum nach dem Recht des Stärkeren in Anspruch genommen wird, haben es Radfahrer und Jogger schwer. Ebenso, wo öffentlicher Raum latent vom Staat oder einer Wirtschaftselite beansprucht wird und man von zahllosen staatlichen oder privaten Ordnungshütern in verschiedensten Uniformen mit Mißtrauen betrachtet wird, wenn man sich nicht möglichst unauffällig verhält. Dazu kommen vielleicht auch kulturelle Vorlieben für Sportarten wie Hantelnstemmen, die langsame Muskelfasern aufbauen und mit denen an einem ganz anderen Körperideal modelliert wird als beim Laufen. Es geht gar nicht darum, schlank zu sein, ausdauernd zu laufen oder gesund zu bleiben, sondern mit Muskelmasse zu imponieren oder einzuschüchtern, weil man enorme Lasten heben oder einen Mann niederringen kann (statt vor ihm wegzulaufen, was viel vernünftiger wäre). Fortschrittlicher und urbaner kommt mir da Helsinki vor, wo ich in zwei Wochen Laufen, Reiten, Stehpaddeln Radfahren, Skaten, Hammerwerfen, Kugelstoßen, Wasserski, Tennis, Tischtennis, Fußball, Kanu, Boxen, Klettern, Minigolf, Basketball und Fahrrad-Polo gesehen habe, alles beim Vorbeilaufen im öffentlichen Raum.

Auf Reisen muß ich keine persönlichen Bestleistungen laufen und die neue Umgebung ist viel zu interessant, um mich nur auf mein Tempo zu konzentrieren. Ich laufe länger, langsamer und mit mehr Freude. Auf einem Lauf hatte ich mich verlaufen und bin statt um eine Bucht um die nächstgrößere Bucht gelaufen (die ich eigentlich für eine Fahrradtour vorgesehen hatte), zunächst ohne es zu merken. Es ging durch den Wald, dann an einer Autobahn entlang, ich stieß auf braun gekachelte Plattenbauten mit Blick aufs Meer und ohne jedes Anzeichen von Verelendung (wofür man bei uns ja gerne die Architektur verantwortlich macht) schließlich landete ich auf einem Holzsteg, der durch ein Sumpfgebiet führte, bis ich an einem Turm ankam, wo Männer mit langen Objektiven ausharrten, um Vögel zu fotografieren, die im Brackwasser der Bucht standen. Ein Radfahrer erklärte mir mit seinem uralten, handygroßen Navi den Weg, wobei wir uns, wie sich später herausstellte, völlig mißverstanden. Erst nach zwei Stunden wurde mir klar, wo ich mich befand und an welcher Stelle ich falsch gelaufen war. Zu Hause mache ich keine so langen Läufe mehr, aber es ging gut, auch wenn ich nach zwei Stunden immer unter ziemlichen Schmerzen in den Beinen leide und deshalb ja auch nicht mehr Marathon laufe. (Liegt es an den Schuhen? Am Tempo? Am Alter? Trinke ich zu wenig? Oder sogar zu viel? Trainiere ich zu lange Strecken? Oder zu kurze? Ist ein Bein kürzer? Oder sind die Plattfüße schuld? Das habe ich damals nie herausgefunden, mit Erschöpfung konnte ich leben, aber die Schmerzen schienen mir ungewöhnlich stark.) Zurück in die Stadt ging es über eine große Autobahnbrücke und an einem Kraftwerk vorbei. Während mich zu Hause meine Trainingsrunde manchmal langweilt, bedauerte ich es in Helsinki, wenn ich nach ungefähr 40 Minuten auf meine Vernunft hörte und umkehrte, weil ich noch weiter kommen und mehr sehen wollte, es war keine Überwindung, so lange zu laufen und am nächsten Morgen hatte ich wieder Lust (zu Hause mache ich, um meine Knie zu schonen, meistens einen Tag Pause.)

Ausgerechnet in Finnland, wo ich so genußvoll gelaufen bin, ist einer der Pioniere des Verdrußlaufens geboren, Paavo Nurmi, einer der größten Olympischen Athleten aller Zeiten. Er hat die Prinzipien des Taylorismus auf das Laufen übertragen. Aber von meinem Besuch bei ihm mehr im zweiten Teil.

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