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Volk und Wirtschaft

Elite-Überproduktion – eine Hypothese zur sozialen Instabilität

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
Zum Kurator'innen-Profil
Thomas WahlSonntag, 04.09.2022

Der Westen erlebt eine Welle der Unzufriedenheit, gerade seiner gebildeten Schichten. Die vielfältigen, wütenden Proteste und Auseinandersetzungen in den sozialen Medien etwa gegen die Ungerechtigkeiten und Zumutungen des 'Kapitalismus' oder die 'Cancel Culture' gehen nicht so sehr von der Arbeiterklasse oder gar den Deklassierten aus. Nein, es sind eher die studierten Eliten – oft mit einem Hintergrund in den "Humanities". Das stützt die Hypothese von Peter Turchin zur Überproduktion studierter Eliten, über die ich vor einiger Zeit schon einmal in einem piq geschrieben habe.

Noah Smith greift die Hypothese auf und stellt die Frage:

Hat Amerika in den 2000er und 2010er Jahren zu viele frustrierte Hochschulabsolventen produziert?

Er unterlegt seine Beantwortung der Frage mit interessantem statistischen Material. Die Kurven zeigen sehr schön, wie bis etwa 2010 die Zahlen der Studienabschlüsse in den Humanities (Humanwissenschaften, Geisteswissenschaften sowie die Sozialwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften) rasant wachsen, dann stagnieren und schnell sinken. Während Abschlüsse in Computer Science und Science zu dominieren beginnen. Warum war das so – fragt Noah Smith? Nach seiner Hypothese gab es bis zur großen Rezession 2008 mit einem Abschluss in den Humanities eine Fülle von Karrierewegen. Was den jungen Menschen 

wahrscheinlich das Gefühl (gab), dass es sicher war, Geisteswissenschaften zu studieren – dass es trotz des Stereotyps, dass man mit einem englischen Abschluss nichts anfangen konnte, immer noch jede Menge Arbeit für sie gab, wenn sie es wollten. Das Studium der Geisteswissenschaften hat Spaß gemacht, man fühlte sich wie ein Intellektueller, und die sozialen Möglichkeiten waren wahrscheinlich viel besser, als wenn man den ganzen Tag in einem Labor oder vor einem Computerbildschirm feststeckte.

Und er zeigt wiederum mit Statistiken, dass danach eine ganze Reihe dieser Karrierewege prekärer wurden. Sei es in der Juristerei, in den traditionellen Medien oder als Beamter.

So litten all diese traditionellen Karrierewege für geisteswissenschaftliche Absolventen in den späten 2000er und 2010er Jahren. Aber gleichzeitig gab es einen riesigen Boom in der Zahl der Menschen, die Geisteswissenschaften studierten.

Und hier kommt nun die Theorie der Revolution durch nicht eingelöste Erwartungen zum Tragen. Sie besagt, 

dass eine Revolution wahrscheinlich ist, wenn nach einer langen Zeit steigender Erwartungen, begleitet von einer parallelen Erhöhung ihrer Zufriedenheit, ein Abschwung eintritt. Wenn die Wahrnehmung der Bedarfszufriedenheit abnimmt, die Erwartungen weiter steigen, entsteht eine wachsende Kluft zwischen Erwartungen und Realität. Diese Kluft wird schließlich unerträglich und schafft die Voraussetzungen für eine Rebellion gegen ein soziales System, das seine Versprechen nicht erfüllt.

Und dieser Verlauf passt sehr gut auf die USA in den 2010er Jahren. Das Produktivitätswachstum verlangsamte sich um 2005 stark. Die Immobilienpreise (ein Hauptpfeiler der Mittelschichtsvermögen) stiegen bis 2006 an und begannen 2007 zu sinken. Und die Wirtschaft brach in der Großen Rezession ein. Und mitten drin die 25-Jährigen, die gerade ihre Abschlüsse in den Humanwissenschaften machten mit all ihren Karriereerwartungen und Studienschulden.

… und niemand will Anwälte, Zeitschriften sterben, Nachrichtenredaktionen sterben, Universitäten stellen nicht ein, …

Damit wurde Sozialismus in den 2010er Jahren bei jungen Amerikanern schnell beliebter, die Bernie-Sanders-Bewegung explodierte. Sicher bestand sie aus Menschen aller Klassen. Aber insgesamt war es keine proletarische Bewegung. Es war und ist noch im Grunde, wie N. Smith wahrscheinlich richtig vermutet, eine Revolte von studierten Eliten 

oder zumindest der Menschen, die erwarteten, dass ihre Ausbildung sie zu einem Teil dieser Klasse macht. Es ist bezeichnend, dass zwei der leidenschaftlichsten Kreuzzüge der neuen sozialistischen Bewegung der Schuldenerlass von Studenten und das freie College waren.

Oder wie Smith selbst sagt:

… als Sozialisten mit Hochschulabschlüssen mit mir über die "Arbeiterklasse" sprachen, wurde mir klar, dass die Klasse, die sie beschrieben, sie selbst war.

Traditionell glauben ja viele, dass Revolutionen grundsätzlich von unterdrückten Arbeitern oder Landarbeitern ausgehen. Aber eigentlich sind frustrierte und unterbeschäftigte Eliten viel besser geeignet, um Gesellschaften zu destabilisieren und ggf. umzugestalten (und so war es auch in den meisten vergangenen Revolutionen). 

Sie haben das Talent, die Verbindungen und die Zeit, radikale Bewegungen zu organisieren und radikale Ideen zu verbreiten. …. 

Was auch bedeutet, 

eine Gesellschaft, die eine große Kohorte unruhiger, frustrierter, talentierter und hochgebildeter junger Menschen hervorbringt, bittet um Ärger.
Wie kommen wir da raus? N. Smith sieht zwei Wege und ich würde ihm da zustimmen:
  • Die Realität zu verbessern, was nur schwer, graduell und langsam möglich ist oder 
  • Erwartungen zu reduzieren bzw. realistischer zu gestalten.
Letzteres würde auch heißen, die Konzepte der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften pragmatischer und realitätsnäher zu machen.
Elite-Überproduktion – eine Hypothese zur sozialen Instabilität

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Kommentare 13
  1. Nutzer gelöscht
    Nutzer gelöscht · vor mehr als ein Jahr

    Im Verlauf meines Berufslebens von '79 bis '14 habe ich im Luftfahrtunternehmen sehr oft den Fall gehabt, daß eine Person mit seinen politischen Einstellungen (dominant Ingenieure mit sehr hohem Anteil an Promovierten in meinem Tätigkeitsfeld) auffiel. Ganz im Gegensatz zur Branche und dem Herkunftsmilieu der Personen, die ich hier meine, war es mir ein Rätsel, wie "links" einige Aspekte ihrer Äußerungen sein konnten, obwohl sie das eigenartig gut schienen, tarnen zu können.

    Heute vermute ich, es muß viel stärker darauf geachtet werden, in wieweit das "Informationszeitalter" vom "Industriezeitalter" die Rollen übernommen hat; dabei ist aus der "Arbeiterklasse" die "Klasse der "Intellektuellen / zumindest Gebildeten mit Hochschulabschluß (incl. Promovierten)" geworden.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      Ja, aber auch im Industriezeitalter waren es oft die Intellektuellen, die für die Arbeiterklasse gesprochen haben, sie geführt haben.

    2. Nutzer gelöscht
      Nutzer gelöscht · vor mehr als ein Jahr

      @Thomas Wahl Natürlich haben "Intellektuelle" immer etwas "kreiert, ob gut oder schlecht.
      In meiner Ausführung oben, haben aber die Intellektuellen aus dem Industriezeitalter (Marx, Kolping, . . ) in die Rolle der Geführten, derer die "unten" sind, gewechselt und werden dort wiederum von einigen wenigen, Spindoktoren / Influencern / etc geführt. Diese sind die neuen geistigen Führer, in diesem Fall führen sie andere Gebildete, die weniger zu bieten haben, weniger Strahlkraft haben oder sich einfach mit einer Sache identifizieren und anschließen.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Jahr

      (in Antwort auf gelöschten Kommentar) Verstehe nicht genau was gemeint ist?

    4. Nutzer gelöscht
      Nutzer gelöscht · vor einem Jahr

      @Thomas Wahl Man könnte auch formulieren: jetzt / im Informationszeitalter sind es auch noch Intellektuelle die für die neue Gruppe der Arbeiterklasse sprechen. Aber jetzt sind die Arbeiter eben auch Intellektuelle, bloß nicht so wirkmächtige, wie ihre intellektuellen Führer (die Führer waren schon immer ganz wenige, herausgehobene)

    5. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Jahr

      (in Antwort auf gelöschten Kommentar) In der Tat. Der Bildungsgrad ist gestiegen. Aber ob ein Abitur und Studium schon den/die Intellektuellen macht?

    6. Nutzer gelöscht
      Nutzer gelöscht · vor einem Jahr

      @Thomas Wahl Wenn es das ist, was Sie an meinen Formulierungen gestört haben sollte: ja, nicht beim Abitur, aber beim abgeschlossenen Hochschulstudium würde ich das schon so sehen mit den Intellektuellen. Also der gemeine Lehrer im Gymnasium ist wahrscheinlich eher eine Übergangsgröße; ausgestattet mit genug Ideologie im Rucksack kann er schon was bewirken. Seltener aber als Führungsperson.

      Eine besondere neuere Klasse sind Leute ohne Abschlüsse aber in und durch politische Strukturen "gebildet", wie Kühnert bei der SPD.

    7. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Jahr

      (in Antwort auf gelöschten Kommentar) Ach gestört in dem Sinne hat mich nichts. Es ging mir eher um Klarheit. Intellektuelle werden ja durchaus unterschiedlich charakterisiert. Es gibt epische Diskussionen darüber. Und ein Hochschulabschluß ist nicht immer Bestanteil für die Zugehörigkeit.
      Nur mal als Anregung:

      https://de.wikipedia.o...

    8. Nutzer gelöscht
      Nutzer gelöscht · vor einem Jahr

      @Thomas Wahl @Thomas Wahl Klarheit ist gut. Wiki hilft kann aber die völlige Klarheit nicht herstellen. Die Wahrheit ist ein eitel Ding und versteckt sich immer. Und unsere Sprache ist vorteilhaft unscharf; Dank dieses Umstandes können wir mit dem Verstand anfangen, uns besser zu verstehen : - ))

    9. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Jahr

      (in Antwort auf gelöschten Kommentar) So ist es …..

  2. Silvio Andrae
    Silvio Andrae · vor 2 Jahren

    In der Schweiz wird eine ähnliche Diskussion geführt - siehe das Interview mit Mathias Binswanger

    https://condorcet.ch/2...

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 2 Jahren

      Ja, das hier sehe ich auch so - gut formuliert:

      "Letztlich befinden wir uns in einem Teufelskreis, den wir selbst geschaffen haben und weiter bewirtschaften. Weil die Anforderungen in vielen Berufen ansteigen, glaubt man, höhere Qualifikationen für ausgeschriebene Stellen verlangen zu müssen. Dies führt dazu, dass sich die Berufschancen für Menschen mit einer Berufslehre verschlechtern. Also streben auch Jugendliche mit guten handwerklichen oder technischen Fähigkeiten eine akademische Ausbildung an. Dadurch verschlechtert sich die Qualität der verbleibenden Lehrlinge, was wiederum dazu führt, dass Unternehmen höhere Bildungsanforderungen bei der Stellenausschreibung setzen."

      Und wir haben zuviele studierte junge Menschen mit Flausen im Kopf …

  3. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor 2 Jahren

    So wie dort, so auch hier:
    "„Der Abitur- und Akademisierungswahn muss gestoppt werden und die Gleichwertigkeit von Studium und Ausbildung klarer herausgestellt werden und den Jugendlichen und Eltern klar kommuniziert werden“, fordert Schneider.

    „Bereits in der Berufsorientierung, bei den Rollenbildern in den Medien, bei dem, was Eltern Ihren Kindern raten, muss ein Umdenken stattfinden“. Regionale Wertschöpfung und Handwerk müssten wieder einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert bekommen, sagte der Verbandschef."

    https://www.welt.de/wi...

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