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Zeit und Geschichte

"Was wir heute als Zivilisation erfahren, ist viel fragiler, als wir denken"

Dirk Liesemer
Autor und Journalist
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Dirk LiesemerFreitag, 30.09.2016

Der Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion war von Beginn an als Ausrottungskrieg geplant. Doch erst die Massaker von Babyn Jar und Kamenez-Podolsk bestätigten der NS-Führung, dass ein gigantischer Massenmord im Osten auch tatsächlich möglich ist. Denn eine frühe und entscheidende Erkenntnis dieses Kriegs war laut Timothy Snyder folgende: Sobald staatliche Strukturen zerstört sind, können Vorgesetzte ihren untergebenen Soldaten und Polizisten eintrichtern, dass Verbrechen einem höheren Zweck dienen. In einer solchen anarchischen Situation wurden schon bald nicht mehr nur Männer umgebracht, denen noch Widerstand unterstellt werden konnte, sondern auch Frauen und Kinder. Schlussendlich tötete der mit Kugeln durchgeführte Vernichtungsfeldzug mehr als 2,5 Millionen Juden. "Die Geschichte des Holocaust zeigt, dass erst die Vernichtung eines Staates neue radikale Schritte ermöglichte", sagt Snyder und fordert, dass wir uns auch bei heutigen internationalen Konflikten mehr als bisher vor den Konsequenzen einer Staatszerstörung fürchten sollten.

"Was wir heute als Zivilisation erfahren, ist viel fragiler, als wir denken"

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Kommentare 10
  1. Nutzer gelöscht
    Nutzer gelöscht · vor 8 Jahren

    Vielen Dank für diesen piq! Sehr interessante Analyse und für mich ganz neue Gedanken und Sichtweisen. Nur die Verwendung des Begriffs Anarchie in dem Artikel finde ich unglücklich.

    1. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor 8 Jahren

      Warum ist der Begriff unglücklich?

    2. Nutzer gelöscht
      Nutzer gelöscht · vor 8 Jahren

      @Dirk Liesemer Danke für die Nachfrage, ich versuch ne kurze Erklärung: Anarchie ist ja ein großer und verwirrender Begriff, bedeutet Herrschaftslosigkeit, Ordnung ohne Herrschaft. Viele Anarchisten würden sagen, sie streben eine freie Gesellschaft der Gleichgerechtigung an, in einem langen Prozess, der offen ist und bei dem idealerweise alle mitmachen (vgl. Stowasser: "Anarchie"). Bei Anarchie denke ich an die spanische Revolution, die Pariser Kommune, wo Menschen sich selbst organisieren, gegen staatliche Unterdrückung und Gewaltherrschaft. Anarchie heißt eigentlich nicht Chaos und Gesetzlosigkeit , wie der Begriff oft benutzt wird (das ist vielleicht eher Anomie). Wenn Nazis in Länder einfallen, dort die Staaten und deren Ordnungen zerstören, Chaos und Angst sähen, um sofort gewalttätigste und brutalste Herrschaft walten zu lassen, verstehe ich nicht wo dort Anarchie ist oder war.

    3. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor 8 Jahren

      (in Antwort auf gelöschten Kommentar) Ich habe weniger an die ideengeschichtlichen Bezüge des Begriffes gedacht, sondern eher daran, wie er im landläufigen Sinne verwendet wird, als Synonym für Gesetzlosigkeit und Chaos. Klar, man hätte auch chaotische Situation schreiben können.

    4. Christoph Weigel
      Christoph Weigel · vor 8 Jahren

      @Dirk Liesemer die landläufige nutzung des begriffs 'anarchie' ist völlig im sinne der abwertent-st gemeinten verwendung durch konservative, staats-tragende publikationen. das geht wohl auf die sich in zentral- und osteuropa am ende des 19. jahrhunderts häufenden bomben-attentate auf staatsoberhäupter zurück. die attentäter nannten sich zum teil selbst anarchisten.

    5. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor 8 Jahren

      @Christoph Weigel Ich hatte mir schon fast gedacht, dass es hier eine solche Debatte geben könnte, als ich das Wort verwendet habe (übrigens wird es auch von Snyder im Interview mehrmals gebraucht, etwa " ... als Deutschland seine Anarchie exportierte ..."). Dass man hier so aufmerksam liest, freut mich andererseits dann doch.

    6. Nutzer gelöscht
      Nutzer gelöscht · vor 8 Jahren

      @Dirk Liesemer Ich meinte auch die Verwendung des Begriffs im Artikel selbst. Spannend. Je länger ich drüber nachdenke, desto weniger versteh ich Snyder: "Ein Element Hitlers Ideologie war die Anarchie" ? Was soll das denn heißen?

    7. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor 8 Jahren

      (in Antwort auf gelöschten Kommentar) Hitler hat kein Staatswesen aufgebaut. Sogar die NSDAP und die SS fungierten als parallele und miteinander konkurrierende Institutionen. Sebastian Haffner hat mal gefragt: Wenn Hitler 1939 gestorben wäre, also bevor er seine größten Verbrechen begangen hat, würde er dann heute als großer Staatsmann verehrt werden? Haffners Antwort: Nein, denn in Deutschland wäre dann ein Bürgerkrieg zwischen rivalisierenden Gruppen ausgebrochen. Er herrschte bewusst über ein Chaos, was ihm eine Unersetzbarkeit seiner Person garantierte. Chaos gehörte bei Hitler zum System.

  2. Georg Wallwitz
    Georg Wallwitz · vor 8 Jahren

    "Wir sind von den damaligen Ereignissen geschockt. Meiner Meinung nach sind wir aber schockierter, als wir sein sollten. Ich denke, heute ist es nicht viel schwieriger, Menschen dazu zu bringen, Zivilisten zu töten. Es braucht dazu keine SS-Ideologie oder so viel Propaganda, wie wir glauben. Wir machen uns unschuldiger, als wir tatsächlich sind."
    Ich fürchte, da hat er recht. Seinen Eifer und seine Intoleranz wird der Mensch nicht los.

    1. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor 8 Jahren

      Ja, stimme zu. Entscheidet sind Snyder zufolge klare staatliche Strukturen, um die Triebhaftigkeit des Menschen einzuhegen. Die Macht der Moral wird demnach überschätzt.

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